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Verzerrtes Selbstbild

Die nur spärlich erleuchtete Straße ist menschenleer. Zumindest fast. Am anderen Ende geht eine einzelne Person, die mir verdächtigt bekannt vorkommt. Ich brauche eine Weile, um zu verstehen, warum. Er trägt dieselbe Hose wie ich. Dieselbe dunkelgraue Jeansjacke, denselben roten Beanie… Sogar die Haare sind auch blau. Soweit ich das erkennen kann, ist es der gleiche Haarschnitt. Mein Haarschnitt.

Es ist bestimmt nur ein Zufall. Aber eigentlich… das wären schon sehr viele Zufälle. Ich beschließe, ihm unauffällig zu folgen. Leider merkt mein Doppelgänger nach wenigen Biegungen, dass ich mich an seine Fersen geheftet habe. Er beschleunigt sein Tempo, und ich verschnellere ebenfalls meine Schritte. Schon bald beginnt er zu laufen. Langsam kommt mir das Ganze echt seltsam vor. Es ist bestimmt auch kein Zufall, dass mein Doppelgänger ausgerechnet jetzt dort langgeht, wo ich meinen Heimweg habe. Niemand geht hier um diese Zeit, auch heute nicht. Er ist außer mir die einzige Menschenseele außerhalb der Gebäude.

Plötzlich reißt er eine Tür auf und verschwindet dahinter. Ich zögere nur kurz, bevor ich ebenfalls durch den Eingang stürme – und pralle fast mit mir selbst zusammen. Verdattert blicke ich direkt in zwei hellbraune Augen. Meine eigenen Augen. Ein Spiegel. Mit einem lauten Krachen fällt die Tür hinter mir zu.

Ich drehe mich um mich selbst, um festzustellen wo mein Doppelgänger hin ist. Erschrocken fahre ich zusammen. Um mich herum stehen Menschen. Sehr viele Menschen. Und irgendwie sehen sie alle gleich aus... Das bin alles ich. Überall sind Spiegel. Er hat mich in ein Spiegelkabinett geführt. Jetzt reichts mir langsam. Was ist das für krankes Spiel?

Aber wenn ich meinen Doppelgänger hier nicht sehen kann, bedeutet das, dass man hier irgendwo wieder rauskommt. Zu meinem großen Ärgernis muss ich feststellen, dass ich ein wenig beeindruckt von ihm bin. Erst schafft er es, mich in diese maximal verwirrende Situation zu bringen, und dann findet er auch noch den Ausgang auf Anhieb. Selbst wenn ich wüsste, wie ich aus diesem Fiebertraum wieder rauskomme, würde ich mehrere Versuche brauchen, um nicht trotzdem gegen eine Wand zu rennen.

Sogar der Boden und die Decke bestehen aus Spiegeln. Ich beginne, mich langsam an den Wänden voranzutasten. Nach wenigen Metern verschwindet der Widerstand unter meinen Händen. Vorsichtig mache ich einen Schritt. Hier kann ich weiter, aber ich stehe trotzdem wieder vor meinem eigenen Spiegelbild. Eine dunkle Vorahnung verrät mir, dass ich mich in einem Labyrinth befinde.

Eigentlich ist mir der Doppelgänger nicht mehr so wichtig. Ich habe keine Lust auf diesen Mist. Ich drehe mich wieder um und gehe zurück. Zum Glück war ich nicht besonders schnell, denn ich renne prompt wieder gegen einen Spiegel. Dieses blöde Labyrinth. Ich kann mich absolut nicht zurechtfinden. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, in welche Richtung die Tür überhaupt war.

Der Spiegel neben mir lässt mich kleiner aussehen. Und irgendwie… echter. Egal. Ich gehe einfach los, in der Hoffnung, möglichst bald die Tür wiederzufinden. Nach vielen Minuten und noch mehr Kollisionen treffe ich wieder auf einen dieser Spiegel. Ich habe das Gefühl, hindurchgreifen zu können und mich selbst berühren.

Mein Spiegelbild hebt seine Hand. Moment. Das geht doch gar nicht. Ich habe meine Hand nicht gehoben. Das ist nicht mein Spiegelbild. Aber er sieht genauso aus wie ich, nur seine Augen schimmern leicht rötlich. Verwirrt stolpere ich rückwärts und pralle mit dem Rücken gegen einen der Spiegel. Es knirscht. Risse ziehen sich über den Boden und die Wände neben mir. Dann, fast wie in Zeitlupe, bricht das gesamte Labyrinth zusammen.

Mein reales Spiegelbild steht immer noch vor mir. Und – inmitten der riesigen Scherbenhaufen – mindestens 20 Leute. Die alle so aussehen wie ich. Manche sind ein bisschen größer oder kleiner. Sie tragen alle ein leichtes Lächeln auf den Lippen, aber die Augen sind kalt und leblos. Langsam kommen sie von allen Seiten auf mich zu.


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