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Kinderaugen

Ich bemerkte, dass etwas nicht normal war, als der kleine Junge schrie. Er sah mich mit großen Augen an, aus denen jeden Moment Tränen zu kullern drohten und sein Mund war eine unbewegte Linie aufeinandergepresster Kinderlippen. Dennoch hatte ich keine Zweifel, dass der Schrei von ihm kam.

Ich blickte zu seiner Mutter, die neben dem Kinderwagen stand. Sie schien den Schrei nicht zu hören, ihre Augen tief versunken in ihr Handydisplay. Den rechten Arm um eine der gelben Haltestangen geschlungen, um nicht umzufallen, wenn der Bus Geschwindigkeit oder Richtung änderte und um trotzdem mit freier Hand und hektischen Fingern tippen und wischen zu können. Mit der anderen Hand hielt sie drei schwer aussehende Einkaufstaschen, deren Plastik- und Papierträger tief in die Haut ihrer Handgelenke schnitten. Von meinem Sitzplatz aus konnte ich nicht erkennen, was genau sich darin befand, aber ich tippte auf Schuhe in der einen, Lebensmittel in den beiden anderen. Wenn man den darauf abgebildeten Logos trauen konnte.

Der Junge hatte aufgehört zu schreien und ich war beinahe überzeugt davon, es mir eingebildet zu haben. Oder vielleicht hatte ein anderes Kind geschrien, irgendwo weiter hinten im Bus. Ich warf einen Blick über meine Schulter. Eine ältere Dame mit rot gefärbten Haaren. Zwei in meinem Alter. Eine hübsche Studentin, die viel zu sehr danach aussah, als hätte sie ihr Leben im Griff (unsympathisch). Kein Kind. Ich drehte mich wieder nach vorne, weil mir übel wurde und die ältere Dame mich unangenehm direkt anstarrte.

Die Mutter schaute noch immer auf ihr Handy. Ich verspürte kurz den Drang, es ihr gleichzutun, nachzuschauen, ob mir irgendjemand geschrieben hatte. Aber plötzlich waren die großen Kleinkindaugen des Jungen wieder auf mich gerichtet und es fühlte sich falsch an, ihrem herausfordernden Blick auszuweichen. Also starrte ich eine Weile zurück, während unser Bus sich seinen Weg durch die spätnachmittägliche Stadt bahnte. Sie wandelten sich von traurig zu skeptisch zu neugierig. Ich lächelte, dann streckte ich die Zunge heraus. (Damit war ich wohl kein gutes Vorbild, doch das war die Mutter in meinen Augen auch nicht.)

Da erklang ein Kinderlachen, viel zu nahe, wie in meinem Kopf. Ich spürte, wie meine Grimasse zerfiel und zu einem verstörten Stirnrunzeln wurde. Irgendetwas stimmte nicht mit meinem Gehör. Unmöglich konnte auch sein Glucksen den Motorenlärm und erst recht nicht die Lautsprecheransage übertönt haben.

Ich warf einen Blick auf den Infoscreen, um zu schauen, wie lange es noch bis zu meiner Haltestelle war. Vier Minuten. Ich musste herausfinden, was hier vor sich ging, sonst würde mich dieser Moment verfolgen und am Einschlafen hindern. Und ich brauchte den Schlaf dringend. Also startete ich einen weiteren Versuch.

Leider gehörte ich nicht zu den Menschen, die mit beiden Augenbrauen abwechselnd wackeln können. Nur mit den Ohren, und die waren von meiner Mütze verdeckt. Mir blieb nur, die Backen aufzublasen und meine Nase zu rümpfen. Ein Anblick, von dem ich hoffte, dass er den Jungen nicht zu sehr verschrecken würde. Ich warf schnell ein paar Blicke um mich, um sicherzugehen, dass mich sonst niemand ansah (keine Gefahr, alle waren mit ihren Smartphones beschäftigt oder sahen musikhörend aus den Fenstern); dann schaute ich zu ihm zurück.

Sein Pausbäckchengesicht blieb unverändert, Mund leicht offenstehend und Spucke absondernd. Mir fiel ein, dass ich Kinder eigentlich nicht mochte. Dann hörte ich wieder das Lachen und mir dämmerte, was hier los war. Er war in meinem Kopf. Es klang verrückt und unmöglich, aber es gab keinen Zweifel. Und er machte es absichtlich, das wusste ich genau. Er wirkte zufrieden, jetzt, da er meine Aufmerksamkeit hatte. Ich riss meinen Blick von ihm los und warf ihn aus dem Fenster. Und sah, wie meine Haltestelle mit gut vierzig Stundenkilometern an mir vorbeisauste. Ich biss die Zähne zusammen – meine Art, stumm zu fluchen, wenn Kinder anwesend waren – und drückte den Stopp-Knopf.


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