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1937

Ich arbeite in einer Glasfabrik seit dem Tag, an dem ich die achte Klasse beendet habe. Ich wache immer um 6:20 Uhr auf, komme um 7:00 Uhr zur Arbeit. Man verteilt mich heute in die Heißglasabteilung - dorthin, wo anstelle von Luft geschmolzener Sand ist. Ich warte auf den Sonntag. In meine Stadt, nach der Industrialisierung, drängten sich Arbeiter aus der gesamten (Ukraine) großen Nation der SSSR, und sie verstehen nicht immer, dass ich keine Auferstehung will. Ich will Untätigkeit*. Aber das Maximum, worauf ich hoffen kann, ist, nicht in der Statistik unter „Arbeitsunfälle“ zu erscheinen. Ich habe den „gottlosen Fünfjahresplan“ erlebt und fürchte deshalb, dass ich nicht nach christlicher Art beerdigt werde.

Ich arbeite immer zehn Stunden und kehre um 17:15 Uhr zurück nach Hause. Die Uniform fällt von mir ab - ich ziehe mich nicht aus; das liegt daran, dass ich nichts esse. Vor fünf Jahren habe ich die Hungersnot überlebt, meine Frau und Kinder, die zu meiner Großmutter nach Galizien geschickt worden waren, leider nicht.

Meine Mutter spricht Ukrainisch, Kleinrussisch. Das könnte sie auch mit meinem Vater sprechen, aber der wurde von einem Splitter im Bürgerkrieg bei der Verteidigung der Stadt tödlich verletzt. Ein neuer Mann ähnelt ihm sehr, doch er ist völlig anders als ich. Meine Mutter sieht mich enttäuscht an und scheut sich davor, mich zu berühren. Sie erzählt, dass wir in den Werken Luken für Panzertechnik herstellen, Optik für Zielgeräte, andere Schrecken, die ich längst erkannt habe. Aber es fällt mir schwer, dort zu atmen. Sobald ich den Mund öffne, um eine Frage zu stellen, ersticke ich.

Meine Mutter ist die Tochter eines Priesters, die im Chor sang, noch bevor sie laufen lernte. Sie spricht so, dass es jeder hört. Offenbar merkt sie nicht, dass die Wände Augen und Ohren haben, weil wir in einer Kommune wohnen und nicht in Metro-2. Und nach dem Befehl Nr. 00447 des NKWD „Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“ vom 30. Juli 1937 wurden Todesurteile Normen der Produktion. Ich halte ihr den Mund zu. Sie weint lautlos.

Mein Heimweg von der Arbeit - vereinzelte Büsche, neuerdings auch Ziegeltrümmer. Der Boden ist grundsätzlich uneben, doch an einer Stelle unnatürlich aufgeworfen. Die obere Schicht ist noch nicht zugewachsen, und der Geruch beißt sich in den Hals. Ein Stein von seltsamer Form ragt heraus, ich trete näher - es ist ein Stiefel. Ich renne weg.

Ich kann nicht schlafen, taste die Straße hinter dem Fenster ab. Höre das Geräusch eines Autos. Das ist der „schwarze Rabe“ - nie ein gutes Omen, und hoffen kann ich nur, dass er für jemand anderen hier ist. Eine Minute Schweigen. Ich stehe auf, um aller Gefallenen zu gedenken. Lautes Klopfen an der Tür - Kirchenglocke einen halben Meter entfernt, hundertzwanzig Dezibel direkt ins Hirn.

Ich öffne die Türen, meine Mutter springt hinterher. Drei Männer treten ein, als wären sie zu Hause, alle in Mänteln und mit Tokarev TT-33 am Gürtel. Einer nennt den Namen meiner Mutter. Er spricht in „mächtigem Russisch“:

„Mach dich bereit. Zur Vernehmung.“

Ich schirme ihren Körper mit meinem ab, schreie wie ein Wahnsinniger. Ich bekomme einen Kolbenhieb auf die Schulter und ins vom Blut rote, sozialistische Ohr, geflüstert:

„Nicht stören. Widerstand gilt als „antisowjetische Agitation und Propaganda“, dann werdet ihr alle verhaftet.“

Ich drehe mich um - auch der Stiefvater schläft nicht. Nun sieht er sanft aus, den Kopf gesenkt, wie ein Schuldiger. Sobald die NKWD-Männer gehen, werfe ich seine Sachen aus dem Fenster.

Ich gehe morgens zur Arbeit, weil das alles ist, was mir geblieben ist. Meine schöne neue Welt - Glas unklarer Bestimmung. Ich bin müde. Ich warte auf die Auferstehung. Denn heute Nacht wurde ich gekreuzigt.

*Auf Russisch sind „Sonntag“ und „Auferstehung“ dasselbe Wort; auf Ukrainisch setzt sich „Sonntag“ aus den Wörtern „nicht“ und „Tätigkeit“ zusammen. Es ist auch der einzige freie Tag für solche Arbeitnehmer


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