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Der Spiegel der anderen

Sie stand vor dem Spiegel, die Brüste in der Hand, und zog an ihre Locken, als könnte sie damit die Welt geradebiegen. Doch die Locken blieben widerspenstig, kräuselten sich, lachten sie fast aus. Auf ihrem Handy lächelte ein Mädchen mit glattem, glänzenden Haar, so makellos, als hätte das Leben selbst es geglättet. Sie spürte den Stich der Sehnsucht. „Warum nicht ich?“ 

Ihre Finger tasteten nach dem Glätteisen. Einmal mehr. Immer wieder.

So begann ihr tägliches Ritual: sich selbst in eine Fremde zu verwandeln.

Auf Instagram scrollte sie durch unendliche Gesichter. Schlank, strahlend, stark – so präsentierten sich die anderen. Jeder Klick war wie ein Schlag gegen ihr eigenes Bild. Ihre braunen Augen, ihr lockiges Haar, ihre sanften Kurven – alles erschien ihr plötzlich ungenügend. Als hätte sie von Geburt an etwas verpasst.

Sie schminkte sich, bis ihr Spiegelbild nicht mehr ihres war. Sie kaufte Kleidung, die eng anlag, glänzte, funkelte – doch nie zu ihr sprach. Sie lächelte, wie eine Maske. Und unter dieser Maske breitete sich Stille aus.

Denn egal, was sie tat – es reichte nie. Jeder neue Versuch, schöner, größer, perfekter zu sein, ließ die Leere nur wachsen. Es war, als würde sie in ein Glas schlagen, das zurückwarf, was sie nie erreichen konnte.

Um sie herum spiegelten sich alle gegenseitig. Dünne sehnten sich nach Muskeln, Kleine nach Größe, Glatte nach Locken und Lockenköpfe nach glattem Haar. Ein endloser Tanz der Unzufriedenheit. Jeder war das Spiegelbild eines anderen – und niemand mehr er selbst.

Eines Abends, als der Bildschirm sie wieder in ein kaltes Licht tauchte, blieb sie an einem Bild hängen. Ein Lächeln, so perfekt, dass es unecht wirkte. Die Haut glatt, die Farben weichgezeichnet, der Himmel dahinter zu blau, um real zu sein. Und plötzlich sah sie nicht mehr die Schönheit – sie sah die Maske.

Da war ein Riss im Glas.

Zum ersten Mal fragte sie sich, ob nicht die Bilder falsch waren – und nicht sie. Ob nicht alle die Spiegel trügerisch glänzten. Sie erinnerte sich an den Tag, als ein Mädchen aus ihrer Klasse ihre Locken „wunderschön“ genannt hatte. Und an das Gefühl, als sie einmal barfuß im Regen stand, frei, nass, lachend – ohne Make-up, ohne Kamera, ohne Augen der anderen.

Sie legte das Glätteisen zur Seite. Zum erste Mal.

Der Spiegel blieb, das Glas blieb – doch ihr Blick war ein anderer.

Und sie spürte, dass die größte Schönheit vielleicht dort begann, wo man aufhörte, ein Spiegelbild zu sein.


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