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Die gläserne Welt des Kostjan

Die Werkstatt roch nach Terpentin und feuchtem Holz, als Kostjan die schweren Fenster öffnete. Wladiwostok lag im Nebel, eingehüllt wie in Milchglas. Sein Vater stand bereits an der Staffelei, der Pinsel in der Hand zitterte leicht, aber das Auge war noch scharf. Schweigend arbeiteten die beiden, Leinwände aufzuspannen, Farben zu mischen, wie sie es seit Jahren taten. 

An diesem Morgen lag auf dem Tisch ein Umschlag. Kein Absender, nur sein Name, „Kostja“, in vertrauter Handschrift.

Er riss ihn auf, der Ring fiel heraus und rollte über den Boden. Kein Abschiedsgruß, kein „Es tut mir leid“. Nur das kalte Klirren auf dem Werkstattboden. Sein Vater wollte etwas sagen, doch er schwieg. Kostjan wusste, dass es vorbei war, noch bevor er die wenigen Zeilen zu Ende las. Das Gegenstück auf seinem linken Ringfinger wurde auf einmal schwerer.

Drei Wochen später kam ein anderer Brief. Diesmal nicht von ihr, sondern vom Militär. Er wurde eingezogen. Keine Wahl, keine Diskussion. Das Land brauchte Männer, hieß es.

Kostjan saß mit dem Papier in der Hand, während sein Vater daneben rauchte. Der Alte sagte nur:

„Du gehst nicht, weil du willst. Du gehst, weil sie es so entschieden haben. Vergiss das nie.“

Zwei Tage später saß er in einem Zug, zwischen fremden Gesichtern, alle schweigend, alle mit denselben Augen – leer und müde, als hätte man ihnen das Leben schon vorher gestohlen.

Der Krieg war so weltfremd. Granaten, Schüsse, Schlamm. Kostjan verstand kaum, wie er überhaupt dort hineingeraten war. Er war Maler, kein Soldat. Und doch hielt er ein Gewehr, und die Welt erwartete von ihm, dass er zielt und abdrückt.

Dann kam der Tag, an dem alles zerbrach. Eine Granate, ein weißes Licht, ein Schrei. Als er wieder zu sich kam, war sein linker Arm weg, und mit ihm auch sein Ring. Der Schmerz war kaum auszuhalten, aber schlimmer war das Gefühl der Leere. Als hätte jemand einen Teil seiner Welt einfach gelöscht.

Monate später schleppte er sich zurück nach Wladiwostok. Kein Held, kein Krieger – nur ein Mann mit einem Stumpf unter den Bandagen und Augen, die zu viel gesehen hatten.

Das Atelier stand noch, doch es war nicht mehr dasselbe. Sein Vater war älter geworden in diesen Monaten, der Pinsel zitterte stärker. Kostjan versuchte, den seinen wieder in die Hand zu nehmen, doch der Griff war unsicher, die Linien brüchig. Er war Maler mit einer Hand – wie ein Musiker ohne Stimme.

Die Leute auf den Straßen mieden seinen Blick. Einige sagten Worte wie „Pflicht“ und „Opfer“. Aber keiner sprach von den Nächten, in denen er schreiend erwachte, weil sein nicht mehr vorhandener Arm brannte. Niemand sprach von der Frau, die ihn mit einem Ring im Umschlag verlassen hatte. Niemand sprach davon, wie zerbrechlich alles war, wie schnell aus Glas Scherben wurden.

Eines Abends saß er wieder im Atelier, allein. Der Ring lag auf dem Tisch. Stumpf, kalt. Er hob ihn hoch ins Neonlicht. Früher hatte er darin eine Zukunft gesehen – jetzt sah er nur noch einen Spiegel, der ihn auslachte.

Und doch: Glas ist nicht nur fragil. Man kann Scherben zusammensetzen, auch wenn man sich die Hände daran aufschneidet. Vielleicht wird es nicht mehr perfekt, aber es bleibt.

Kostjan legte den Ring in ein Glas mit Terpentin, neben die Pinsel. Dann nahm er einen davon in die rechte Hand, zitternd, unsicher, und zog eine Linie auf die Leinwand. Schief, krumm, unruhig – aber sie war da. Ein Anfang.

Draußen im Nebel hörte er die Sirenen der Schiffe. Das Leben ging weiter. Die gläserne Welt war zerbrochen – aber zwischen den Splittern konnte man immer noch malen.


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