Bald wäre sie schon wieder eingeschlafen und hätte sich diesmal sogar fast den Kopf gestoßen. Das ist keine große Überraschung, bei so einer langen Zugfahrt würden die meisten einnicken. Evie rückt ihr Nackenkissen zurecht und blinzelt müde ins Sonnenlicht, welches durch das Fenster scheint. Nachdem sich ihr Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte sie bereits die Wüstenlandschaft, so wie sie auf dem Flyer abgebildet war. Eine Stadt aus Glas, die für Transparenz stünde, für Offenheit und Miteinander. Ein jahrelanges Bauprojekt mitten in der Wüste, was nun endlich fertiggestellt worden war und Menschen aus ganzer Welt anzog. Bereits mehrere Tausende wohnen in dieser seltsamen Stadt. Evie war schon immer für mehr Offenheit. Oft genug gab es Probleme durch fehlende Kommunikation. Beispielsweise bei ihren Eltern. Ihr Mutter setzte sich in ihrer Freizeit mit Magie auseinander. Sie wusste unglaublich viel über die Kräfte verschiedenster Kräuter und Gesteine. Als ihr Vater das erst nach Jahren herausfand, beschuldigte er ihre Mutter ihn mit ihrem „verrückten Hokuspokus-Gesäusel“ verhext zu haben, damit er sich in sie verliebe. Als Außenstehender konnte man nur den Kopf schütteln, denn die Streitereien gingen schon viel länger. Die Magie war jedoch der Trennungsgrund.
Evie hatte lange gebraucht um ihre Mutter, Elena, zu überreden sie in diese „Gläserne Welt“, wie sie oft von den Medien beschrieben worden war, ziehen zu lassen. Denn diese gab mehr als nur ein paar verlockende Versprechen. Ein reformiertes Bildungssystem, bessere Karrierechancen, eine gerechteres Miteinander – und das war noch nicht alles. Evie wollte einen Neuanfang. Etwas komplett Neues, Unbekanntes. Und diese Stadt schien wie für sie gemacht. Natürlich ließ Elena ihre geliebte Tochter nicht ohne zahllose magische Unterstützer gehen. Eine Stadt aus Glas, komplett gerecht und transparent. Das macht logischerweise auch skeptisch. Also gab sie ihr jede Menge magischer Armbänder aus irgendwelchen Gesteinen die vor Bösem schützen, Amulette und sogar eine Brille gegen Illusionsmagie. Oder so. Und das obwohl sie nicht einmal eine Sehschwäche hatte. Auch wenn es ihr etwas peinlich war, liebt Evie ihre Mutter, also hat sie die magischen „Dingsbums“ liebevoll in eine Plastiktüte gestopft und irgendwo in ihrem Koffer verstaut.
Ein lauter Signalton unterbrach ihren Gedankengang. Eine Ansage mit „Endstation“. Erneut schaute sie aus dem Fenster und tatsächlich: sie waren schon am Bahnhof. Schnell sammelte sie ihren sieben Sachen zusammen und eilte zur Zugtür. Der Bahnhof war verhältnismäßig normal und langweilig. Bis auf vereinzelte Polizisten an Ein- und Ausgängen. Die sah sie bei ihr zuhause nicht so oft an einem stinknormalen Bahnhof. Sie schloss sich der drängelnden Masse an und ging Richtung Ausgang. Als sie endlich einen Blick auf ihr neues Zuhause erhaschte, blieb ihr fast der Atem weg. Gigantische Gebäude komplett aus Glas. Bäume, Sträucher, Laternen, einfache Parkbänke. Alles aus purem Glas geschaffen. Farben wurden mit Lichtspielereien kunstvoll in diese absurden Bauten projiziert. So etwas hat sie noch nicht einmal in ihren wildesten Träumen gesehen.
Gemeinsam mit ein paar anderen neuen Bewohnern wurde sie durch die Stadt geführt bis hin zu ihrem neuen Wohnhaus. Auch ihre Wohnung übertraf alle Erwartungen. Man fühlte sich wie in einer Seifenblase. Tisch, Stühle, Bett – alles war aus Glas! Auf ihrem Bett erwartete sie das erste undurchsichtige Objekt in dieser Stadt. Ein Blatt Papier. Eine Liste. Mit Regeln.
- 22:00 Uhr Nachtruhe
- ab 06:00 Uhr Arbeitszeit
- Bitte um äußerste Sauberkeit und Ordnung
- Das Glas muss sanft gehandhabt werden – bei Beschädigung ist mit Haft zu rechnen.
- Geheimnisse werden bestraft. Transparenz wird belohnt.
Sie blinzelte. Auf einmal wirkte die Stadt nicht mehr so wundervoll. Was wenn sie doch nicht so frei und offen ist, wie sie gedacht hatte?