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Die Schwester

„Ich werde mich kurzhalten, also beginnen wir.“, er setzt sich auf seinen Schreibtischsessel und rollt sich gegenüber von mir, an den Plastiktisch. Mein Blick bleibt auf meine Hände gerichtet, die zusammengefaltet auf meinem Schoß liegen. „Ich will dich nicht lange belästigen und ich weiß auch wie schwer die Situation gerade für dich sein muss, aber ich würde mir gerne deinen Blickwinkel anhören.“. Für mehr als ein schwaches Nicken reicht meine Kraft nicht. Vier Tage ist es jetzt her, und ich habe so wenig wie möglich darüber nachgedacht.  

„Ich stand um halb sieben in der Früh auf, um in die Schule zu gehen, wie jeden Tag. Sobald ich dort war, wurde ich gefragt, wie es mir geht. Wie ich mit der Situation umgehe, dass meine Schwester seit einer Woche vermisst wird. Ich habe geantwortet, dass es mir der Situation entsprechend gut geht. Dann war ich im Unterricht und danach bin ich wieder nach Hause gegangen. Ich habe mich umgezogen und bin in ihr Zimmer, dort habe ich mich auf ihr Bett gesetzt und ihr von meinem Tag erzählt. Auch dass mir der Streit am Tag vor ihrem Verschwinden leidtat und dass ich gerne andere Dinge gesagt hätte. Es hat dann an der Tür geklingelt und ich habe sie aufgemacht. Es war unsere Nachbarin, die Hilfe beim Tausch einer Glühbirne gebraucht hat. Ich habe meine Schuhe angezogen, den Hausschlüssel genommen, die Tür zugesperrt und bin mit ihr mit. Etwa 3 Stunden später stand ich wieder vor meiner Wohnungstür. Ich wollte gerade hineingehen, da bemerkte ich einen kühlen Luftzug. Ich sperrte auf und bemerkte erst dann, dass es der Schlüssel meiner Schwester war, den ich in der Hand hielt. Ich machte die Tür auf und die Wohnung sah aus, als wäre eine Bombe explodiert. In jedem Fenster waren die Gläser zerschlagen worden, beinahe alle Türen hatten Löcher und in der Mitte des Wohnzimmers lag meine Schwester. Sie hatte ein Messer in der Hand, eine Gabel in der Hand stecken, eine Schere im Bauch, tiefe Schnitte am ganzen Körper, blaue Flecken an den Beinen, ein blaues Auge und eine blutende Lippe. Ich griff nach meinem Handy und rief die Polizei an. Den Rest kennen Sie.“, meine Stimme klang die ganze Zeit über kalt, monoton und gefühlslos.

Meine Therapeutin schrieb alles mit und der Polizist stoppte sein Diktiergerät. Er bedankte sich und ich konnte gehen. Mein erstes Ziel war das Hotel, in dem ich wohnte, bis ich zu meinen Eltern ins Ausland ziehen konnte. Ich nahm meinen Rucksack und machte mich auf den Weg zum Friedhof. Das nächste Mal stoppte ich erst, als ich vor dem Grab meiner Großeltern stand und setzte mich ins Gras. Ich weiß, dass meine Schwester auch hier begraben werden würde, meine Eltern hatten alles arrangiert. Mir kamen die Tränen, ich schaute zum Himmel hinauf.

„Es tut mir alles so leid, ich wollte nicht das es so weit kommt. Hättest du mir nur gesagt, wo das Geld versteckt war, hätte ich dich kurz und schmerzlos einfach erschießen können. Du hättest nicht tagelang an diesen Sessel gefesselt in deinem Zimmer sitzen müssen. Wieso hast du es mir nicht einfach gesagt?“, ich brach in Tränen aus. „Wie hast du es überhaupt geschafft dich zu befreien? Wieso hast du Fenster zerschlagen und dich so zugerichtet? Ich verstehe es nicht.“. Einen Moment lang war es still, bis auf das Zwitschern der Vögel in den Bäumen. „Du hast doch nicht versucht mich zu beschützen, oder? Wieso hast du es aussehen lassen, als wärst du wahnsinnig geworden und hättest dich dann umgebracht?“

Ich öffnete den Rucksack und nahm den Brief heraus, den ich schon vor zwei Tagen geschrieben hatte. Er war für meine Eltern, wieso sie dieses Geld unbedingt brauchen. Wieso so ihre Tochter dafür opfern würden. Wieso ich sie opfern musste. Ich hörte Sirenen näherkommen. Die Polizei. Sie haben es wohl rausgefunden. Ich nahm die nächste Sache aus meinem Rucksack, aus der Ferne hörte ich den Polizisten von heute Mittag meinen Namen schreien. Noch bevor er mich erreichen konnte, drückte ich und alles wurde schwarz.


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