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Im klaren Licht

Das Klirren der Gläser war ein kurzer Moment der Leichtigkeit. Er prostete ihr mit einem kleinen Grinsen zu. „Auf dich!“, sagte er, „du wirst heute noch gebraucht.“ 

Sie erwiderte das Glasheben nicht, sondern lächelte nur flüchtig. Dann schlossen sich die Türen des Lifts, und er war fort.

Der Aufzug glitt lautlos nach oben. Die Spiegelwände zeigten ihr Gesicht in mehrfacher Ausführung. Glatt, klar, fast makellos – und doch kam es ihr fremd vor. In der Stadt gab es keine Schatten mehr. Jeder Raum war durchsichtig, jede Bewegung sichtbar. Manchmal hatte sie das Gefühl, gar nicht mehr aus Haut und Knochen zu bestehen, sondern aus Glas. Im zweiundvierzigsten Stock öffnete sich der Konferenzraum. Eine breite Fensterfront gab den Blick frei auf das Lichtermeer der Stadt. Türme aus Stahl und Glas ragten in den Himmel, jeder von ihnen durchsichtig, als gäbe es nichts zu verbergen. Für Fremde mochte es beeindruckend wirken, für sie war es bedrückend. Die anderen waren bereits da, stumm und geordnet. Jeder nahm seinen Platz ein, so wie es vorgesehen war. Niemand sprach mehr als notwendig. Worte konnten aufgezeichnet werden, Gesten analysiert, ein zu langer Blick als Unsicherheit ausgelegt. Der Vorsitzende betrat den Raum. Er sah nicht einmal auf die Menschen, die vor ihm saßen, sondern direkt auf die Wände, wo die Projektionen erschienen: Zahlen, Namen, Bewegungen, Daten. „Transparenz bedeutet Vertrauen“, sagte er. Die Formel war altbekannt, und doch wurde sie jedes Mal wiederholt. Alle nickten, auch sie. Die Sitzung verlief wie immer. Entscheidungen wurden getroffen, ohne dass jemand wirklich etwas sagte. Berichte wurden gezeigt, Leben beurteilt, Regeln erneuert. Alles klar, alles offen, nichts verborgen. Sie hörte zu, aber ihre Gedanken wanderten zurück zu einer Erinnerung. Ein kleines Café, versteckt in einer schmalen Gasse. Dort hatten die Fenster beschlagen, wenn es regnete, und die Stimmen der Menschen vermischten sich zu einem warmen Summen. Niemand sah hinein, niemand nahm etwas auf. Es war nicht groß, nicht wichtig – und doch fühlte es sich damals wie Freiheit an. Ein Datenstrom riss sie zurück in die Gegenwart. Der Vorsitzende sprach weiter, die anderen starrten stumm nach vorn. Sie bewegte kaum die Hände, wollte keine Regung zeigen, die man später auswerten könnte. Es war, als säße sie in einer Vitrine, ein Ausstellungsstück unter vielen.

Als die Sitzung endete, war es bereits spät. Sie trat zurück in den Lift. Wieder war da ihr Spiegelbild, dieses klare, perfekte Gesicht, das ihr nicht mehr gehörte. Sie legte die Hand auf das Glas, spürte die Kälte. „Alles sichtbar“, flüsterte sie, „und doch sieht keiner, wer man ist.“ Der Lift fuhr hinunter, und die Türen schlossen sich ohne einen Laut.


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