Es war ein kalter Winterabend, als Jana auf dem Dachboden eine kleine Schneekugel fand. Sie lag in einem alten Karton zwischen vergilbter Weihnachtsdeko, doch die Kugel selbst war makellos: glasklar, mit einer winzigen, verschneiten Stadt darin. Jana konnte Häuser mit weißen Dächern, einen Marktplatz mit einem Brunnen und eingefrorene Bewegung in Miniatur erkennen. Fasziniert hob Jana die Kugel ans Fenster. Draußen fiel der erste Schnee des Jahres. Für einen Moment kroch ihr eine eisige Kälte den Arm hinauf. Sie schüttelte die Kugel, beobachtete, wie der Schnee darin wirbelte - dann wurde alles schwarz.
Als Jana erwachte, stand sie mitten in der verschneiten Stadt aus der Kugel. Der Schnee schwebte langsam, als würde sie stillsehen. Die Gebäude sahen genauso aus wie zuvor. Selbst die kleinen Figuren standen da – unbewegt, mitten in einem Schritt oder einer Geste. Um sie herum wölbte sich eine gläserne Wand. Kein Himmel. Kein Ausgang. Sie war in der Kugel! Sie rief, schlug gegen das Glas – keine Antwort. Nur Stille und das leise Rieseln der Flocken. Mit der Zeit verlor sie jedes Gefühl für Stunden oder Tage. Es gab kein Licht, keine Dunkelheit. Keinen Hunger, keinen Schlaf. Nur die ewige Starre. Jana wanderte durch die Stadt, versuchte, mit den Figuren zu sprechen. Aber sie waren bloß Abbilder, leer.
Eines Tages entdeckte sie ein Mädchen, das auf einer Bank saß. Ihre Augen wirkten lebendiger als die der anderen, doch auch sie rührte sich nicht. Jana setzte sich zu ihr, sprach mit ihr – sie erzählte ihr von früher, von ihren Träumen und von ihren Ängsten. Und obwohl das Mädchen nie antwortete, fühlte sich Jana nicht mehr ganz so allein. Sie nannte sie Lina.
Eines Tages veränderte sich etwas. Der Schnee fiel dichter, die Farben verblassten. Die Gläserne Wand vibrierte, als würde jemand von außen dagegen stoßen. Dann hörte sie ein Flüstern: „Willst du frei sein?“ Jana erstarrte. „Wer bist du?“ „Du kannst gehen… aber jemand muss bleiben.“ Sie wusste sofort, was gemeint war. Die Kugel würde sie nicht einfach freilassen – sie forderte einen Ersatz. Jana sah zu Lina. Vielleicht war sie nur Teil dieser Welt, eine Figur wie die anderen. Aber sie hatte ihr halt gegeben.
„Wenn jemand bleiben muss… dann ich,“ flüsterte Jana. „Lina soll nicht allein sein“.
Als sie die Augen wieder öffnete, saß sie auf dem Dachboden, die Kugel in der Hand. Es war, als wäre nichts geschehen. Doch in der Schneekugel war nun eine neue Figur: ein Mädchen mit dunklem Haar und Schal – Jana. Und auf der Bank neben ihr – Lina, mit einem zarten Lächeln.
Draußen fiel leise der Schnee. Und drinnen… war jemand geblieben.