fbpx

Hinter dem Glas

Ich sehe dich. Du siehst mich. Wir sehen alles. 

So beginnt jeder Tag in der gläsernen Welt. Die Menschen leben in Häusern aus Glas und jeder Schritt wird mit Überwachungskameras aufgenommen. Von Privatsphäre ist keine Rede mehr, sogar die Wände zwischen Badezimmer und Schlafzimmer bestehen nur mehr aus Glas. Die Kameras schweben lautlos unter der Decke, jedoch ist das rote blinkende Licht zum Irre werden.

Valerie kennt seit 16 Jahren nichts anderes. Seit ihrer Geburt wird jeder Schritt aufgenommen und wenn sie sich falsch benommen hat, steht sofort ein Beamter vor der Tür. Jede Mahlzeit, jede Bewegung sogar jeder Blick in den Spiegel wird dokumentiert.

Eines Nachts als ein Sturm über die gläserne Stadt zieht und der Strom für ein paar Minuten ausfällt, bemerkt sie ein Buch in der letzten Ecke ihres Zimmers. Es ist ein kleines Büchlein, nicht digital, sondern aus echtem Papier, und mit Tinte geschrieben. Valerie hält den Atem an, wer hat das wohl geschrieben und wie ist es in ihr Zimmer gekommen? Sie beginnt zu lesen und zum ersten Mal fühlt sie sich nicht allein. Sie blättert vorsichtig, denn das Papier ist schon brüchig und die Tinte verschwommen, jedoch immer noch lesbar. ,,Ich war wie du, eingesperrt und jeder Moment wurde beobachtet. Doch ich weiß jetzt, wo ich mich verstecken kann.“ Valerie liest weiter, sie fühlt sich wohl, weil das Gefühl von Einsamkeit immer kleiner wird. Auf der vorletzten Seite steht eine sehr genaue Beschreibung. Direkt unter ihrem Bett, unter der Bodenplatte, befindet sich ein Tunnel, welcher früher für Reparaturen verwendet wurde. Plötzlich kommt der Strom zurück, glücklicherweise weiß sie dank des Buches, dass ihr Bett genau im toten Winkel steht.

Sie wartet ab und plant alles ganz genau. Tagsüber verhält sie sich ganz normal und versucht ihre Angst zu überspielen. Eines Nachts, als alle schlafen, öffnet sie den Zugang zum Tunnel. Sie wirft noch einen letzten Blick zur Hauptkamera und öffnet mit zitternden Händen die Bodenplatte, steigt hinein, und spürt sofort die kalte Luft, die ihr entgegen strömt.

Als am nächsten Morgen alle wach werden, bemerken sie, dass Valerie verschwunden ist. Es weiß niemand, wohin sie gegangen ist. Valerie weiß jedoch, dass sie an einem besseren Ort ist, an einem Ort, wo keine Kameras ihre Schritte zählen, wo niemand ihre Gedanken überwacht, und wo sie sie selbst sein kann. Sie kennt den Weg noch nicht, weiß nicht, was auf sie zukommt. Doch eines ist ihr klar: Sie macht es nicht für andere, sondern für sich selbst.


KONTAKT info.literatur@ortweinschule.at

KONTAKT
info.literatur@
ortweinschule.at

Sponsoren