Lassen Sie uns unsere Blicke auf eine Person in Graz richten. Überlegen wir uns einen Namen, um es einfach zu gestalten, nennen wir ihn Max. Ein junger Mann, dünn, hochgewachsen, mit einem Hang zur Faulheit, welche ihm eine gepflegte Frisur versagt, doch nicht die Freude am guten Wetter. Der Herbst zieht herauf, die Blätter wechseln ihre Farbe, gleich einem Film fallen sie von den Bäumen herab. Ein herrlicher Anblick, um den sich Modefirmen gestritten hätten. Auf seinem Weg war nichts und niemand zu sehen. Man hat seine Freude dabei, ihn zu betrachten, wie er über die Straße schlendert. Aus keinem schlimmen Grunde suchte Max die Einsamkeit, vielmehr das Gegenteil. Vater! Das wertvollste Sakrileg, das man erhalten könne, hatte er soeben erfahren. Er würde Vater werden. Weder Geschlecht noch Namen hatte er im Kopf. Wieso sollte er auch? War es relevant? Hatte die Nachricht dadurch weniger Wert? Die Frau, die er liebte, verehrte, vergötterte, war schwanger, sie würden eine Familie gründen. Probleme kämen, aber was waren schon Rechnungen, ist man bloß mit seinem Seelenverwandten unter einem Dach. Nun lassen Sie uns den Blick schwenken, ein neuer Schauspieler betritt unsere Bühne. Ein Schauspieler, welchem ich nicht wage, einen Namen zu geben, nicht wage, abfällig zu beschreiben, nicht wage, seine Handlungen zu verurteilen oder zu verstehen. Auch er war hochgewachsen, trainiert und von ungesunder Blässe, er wirkte so fragil, wie es die Gläser auf Regalen der Großeltern immer an sich haben. In sich zusammengesunken, mit stoßweisem Atem, saß er auf einer Parkbank. Den ganzen märchenhaften Wald vermag man von da aus zu überblicken. In Max’ Rausch des Hochgefühls übersah er ihn zuerst, doch dessen Husten ließ ihn innehalten. An solch einem Tag dürfe keiner einsam, keiner traurig, keiner verlassen sein. Mit einem fragenden Nicken bat er um einen Platz. Ohne ein Wort zu verlieren, einzig ein anteilsloses Schulterzucken nehmend, sank er neben die Gestalt. Zu Anfang begann er mit seinem Namen, doch im selben Augenblick nicht mehr zurückhalten könnend, sprudelten die Wörter nur so aus ihm heraus. Ohne Punkt und Komma erzählte er von seinem Glück, seiner Liebe, seinem Beruf, dem Rauschen der Bäume, dem Orange der Blätter, alles und vieles mehr weckte seine Begeisterung so sehr, dass er sie teilen wollte. Sie saßen ewig da. Es erinnerte an einen Monolog, denn eine Antwort erhielt Max nie, die er aber auch nicht brauchte. Die Wörter, die Bilder, die er zeichnete, waren Kumpane genug. Max’ Augen schweiften über die Landschaft, aus seinen Fingern sprühte Fantasie, sein Haar schlug ihm ins Gesicht.
„Sehen Sie sie? Sehen Sie nicht diese herrlichen Farben? Ach, was ist das für eine schöne Welt!“
Schließlich wendete er sich dem stillen Nachbarn zu.
„Danke“, dieses Wort, dieses Wort war das einzige, die einzige Reaktion.
Eine Antwort – nein, eine Antwort würde er nie erhalten. Aus dem Munde des Unglücklichen floss Blut. Weder Max noch ich kennen uns in solch Dingen aus, weder Max noch ich wüssten, wie wir reagieren müssten. Seine ausdruckslosen Augen waren auf Max gerichtet, seine Pupillen starr den Fingern folgend. Beinahe wirkte er friedlich, froh, die Hoffnung nicht verloren zu haben. Jemanden zu haben, dessen Freude, dessen Enthusiasmus einen die Hoffnung nicht verlieren lässt.
Die ganze Welt ist eine Bühne – Shakespeare.
Ein trauriges Zitat, wahrscheinlich sogar zynisch in jenem Zusammenhang, doch umso wahrer. Die Geschichte ist schwer, theatralisch, doch im Kern erschreckend real. Wir müssen auf die Bühnen der anderen schauen, nicht erst im letzten, im zu späten Moment aus unserer eigenen Welt heraus auf die anderen blicken. Wir dürfen uns nicht in unserem Komfort, in unserem Paradies verstecken, so werden wir unweigerlich blind für das Elend unserer gläsernen Welten- jede einzelne ein Meisterwerk für sich, doch ebenso zerbrechlich. Blind in einer Welt, die es sich nicht mehr leisten kann wegzusehen.