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Verrückter Traum

Kenan Begic

Es war ein Morgen wie jeder andere, dachte ich, bis ich die Augen öffnete und sofort merkte, dass etwas nicht stimmte. Mein Zimmer war viel heller als sonst. Das Licht kam nicht nur durch das Fenster, sondern von allen Seiten. Als ich aufstand, hörte ich ein leises Knistern. Erschrocken sah ich nach unten. Der Boden bestand aus Glas. Ich konnte hindurchschauen und sah die Straße unter mir, als schwebte mein Zimmer in der Luft. 

Verwirrt lief ich zum Fenster, doch es war verschwunden oder besser gesagt, die ganze Wand war durchsichtig. Ich trat vorsichtig hinaus und entdeckte, dass nicht nur mein Zimmer, sondern alles aus Glas war. Häuser, Straßen, sogar die Bäume und Blätter bestanden aus durchsichtigem Material. Die Äste der Bäume funkelten im Sonnenlicht wie Kristalle, und die Vögel, die vorbeiflogen, hatten durchsichtige Flügel, die das Licht brachen und bunte Regenbögen in der Luft zeichneten.

Am Anfang war ich begeistert. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Alles war klar, glänzend und wunderschön. Ich konnte durch Mauern hindurchsehen, es gab keine Geheimnisse, keine dunklen Ecken. Doch schon nach kurzer Zeit spürte ich ein seltsames Gefühl. Wenn alles durchsichtig ist, wo bleibt dann das Verborgene? Wo bleibt der Ort, an dem man allein sein kann? In dieser Welt konnte jeder alles sehen, und plötzlich fühlte ich mich beobachtet, auch wenn niemand in der Nähe war.

Ich wanderte weiter durch die Straßen. Selbst der Boden unter meinen Füßen war durchsichtig. Es war, als würde ich auf Luft laufen. Unter mir sah ich Wolken, Himmel und manchmal sogar etwas, das wie endlose Tiefe wirkte. Mein Herz schlug schneller, weil ich Angst hatte, dass das Glas irgendwann zerspringen könnte. Ich stellte mir vor, wie ich fallen würde, unendlich tief, ohne Halt...

Schließlich kam ich zu einem Platz. In der Mitte stand ein einzelner Spiegel. Er war nicht durchsichtig, sondern aus normalem Glas, so wie wir es kennen. Er wirkte fast fremd in dieser Welt. Vorsichtig trat ich näher und sah mein Spiegelbild. Es war das Einzige, das mir nicht völlig durchsichtig erschien. Vielleicht braucht jede Welt etwas Undurchsichtiges, etwas Geheimnisvolles. Denn wenn alles offenliegt, gibt es keine Fantasie mehr. Keine Träume, keine Sehnsucht.

In dem Moment wachte ich auf. Ich lag wieder in meinem Zimmer, alles war wie gewohnt. Doch als ich zum Fenster ging, sah ich die Regentropfen an der Scheibe. Sie funkelten wie kleine Splitter meiner Erinnerung. Vielleicht war es nur ein Traum oder ein kurzer Blick in eine gläserne Welt.


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