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Tanz

Alea Ehrenhöfer

Seira tanzte. Eigentlich tanzte sie viel und gerne. Tanzen war Zuflucht, war Freiheit. Doch heute tanzte sie, weil sie nicht anders konnte. Sie musste tanzen. Musste sich im Kreis drehen, die Arme strecken, die Beine heben. Die Tanzlehrerin stand am Rand des Saales. Sie beobachtete Seiras Bewegungen genau. „Heb das Bein mehr! Es muss gerade sein!“. Seira streckte ihren linken Fuß noch weiter Richtung Decke. Ihr Unterschenkel zog, sie hatte sich nicht gut genug aufgewärmt. „Höher, Seira! Was ist denn heute los mit dir?“. Seira biss ihre Zähne aufeinander. Eher, was war denn nicht los? Doch das konnte sie nicht sagen. Sie konnte ihre Lehrerin nicht anschreien, sie konnte nicht wütend werden. Sie blieb still, und anstatt zu widersprechen, strengte sie sich einfach noch mehr an. 

Die Zeit zog vorüber, die Stunde ging zu Ende. Seira sollte heim gehen, die Sonne begann schon, sich zu senken. Aber sie wollte nicht. Sie konnte nicht. Nicht zurück in die Welt, die so kurz davor war zu zerbrechen. Ein falscher Schritt und der Schein, den sie wahrte, würde zerspringen. Jeder würde hinter die Fassade sehen. Nicht nur die Brüche, die immer wieder auftraten. Nein; nur vollkommene Zerstörung würde ihnen entgegenkommen. Jeden Tag schlich sie über Scherben. Es war unmöglich, sich nicht zu schneiden. Aber stillstehen, war keine Option. Das Leben ging weiter, die Performance endete nie. Ein leises Rascheln ertönte aus dem Busch neben ihr. Eine Katze tappte aus den Blättern auf den Asphalt. Leise, vorsichtig, eine so vertraute Bewegung. Ihr Fell war gesprenkelt mit roten, braunen und schwarzen Flecken, ihr Näschen war weiß, ebenso ihre Pfoten. Kurz schaute die Katze Seira an, als wollte sie ihr etwas sagen, doch als ein Schatten über sie viel, sprang sie über die Straße davon. Seira blickte auf. Vor ihr stand ein Junge, wuschelige Haare hingen ihm ins Gesicht, verdeckten fast seine Augen, seine Statur klein, sein Lächeln riesengroß. „Hi!“, sagte er. „Hi.“, antwortete sie nüchtern. Schweigend stellte er sich neben sie, sein Lächeln blieb. Gemeinsam warteten sie auf den Bus. „Hast du heute Zeit?“, fragte er nach einer Weile. Hatte sie heute Zeit? Eigentlich nicht, würden ihre Eltern und Lehrer sagen. Aber vor hatte sie auch nichts. „Mhh.“, stimmte sie zu.

Der Bus kam und sie stiegen ein, das rhythmische Brummen des Gefährts das einzige Geräusch in der Stille. Nach einer halben Stunde Fahrzeit stiegen sie aus. Die Luft war kühl, der Himmel zunehmend dunkler, behutsam fielen Blätter von den Bäumen, die die Seite des Gehsteiges zierten. Seira atmete tief durch, es roch nach feuchtem Gras, Holzfeuer und lauwarmen Tee – nach zuhause. Die Fenster des kleinen Hauses waren erleuchtet, mild und goldig schienen sie ihr entgegen – einladend. Die beiden überquerten das kleine Stück Wiese, bevor sie durch die Türe ins Innere traten. Wärme umgab sie und der Geruch von Kräutern. In der Küche stand eine Frau, sie summte vor sich hin, während sie mit einem großen Holzlöffel Kompott in einem eisernen Topf umrührte. Als sie die zwei Kinder sah, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Hallo.“, grüßte sie sanft. „Schön, dass du wieder da bist.“ Seira nickte knapp, kaum eine Bewegung. „Wir gehen nach oben, Mama“ meinte der Junge, als er Seira an ihrer Hand von dem gemütlichen Zimmer fortzog. „Alles klar, passt auf euch auf!“ rief die Mutter ihnen hinterher.

Der Nachthimmel grüßte sie, als sie durch die Luke auf das Dach stiegen. Er sah aus wie immer, klar und sternenüberzogen - unverändert. Gemeinsam lagen sie da, nebeneinander auf ihren Rücken und starrten hinauf. Das Rauschen des Waldes hinter dem Haus hüllte sie ein. Das Zirpen der Grillen fühlte sich an wie Musik, das zarte Flüstern des Windes, der durch ihr Haar fuhr wie eine Umarmung. Ruhe machte sich in ihr breit, Geborgenheit, die sie sonst nie verspürte. Diese Vollkommenheit, die nur hier existierte, zwischen dem kühlen Stein des Daches und dem silbernen Glanz der Sterne.

Der einzige Anker in einer Welt aus Glas.


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