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Die Stimmen im Glas

Zoe Prantl

Stell dir eine Welt vor, in der jede Wand durchsichtig ist. Keine Türen, die man schließen kann, keine Vorhänge, die etwas verbergen. Alles liegt offen, alles ist sichtbar. Die Straßen glänzen, und die Menschen leben wie Gestalten in einem riesigen Aquarium.  

Am Anfang wirkt es wie ein Wunder. Licht fällt in jeden Winkel, kein Schatten bleibt. Lügen verschwinden, Täuschung hat keinen Platz mehr. Jeder Blick zeigt die Wahrheit, alles wirkt rein und klar.

Doch nach einer Weile beginnen die Menschen zu flüstern. Sie sehnen sich nach Dunkelheit, nach einem Raum, den niemand sehen kann. Nach dem kleinen Geheimnis, das nur ihnen gehört. Denn was ist ein Mensch ohne das Verborgene? Ohne das, was still im Herzen schlägt?

Das Glas aber schweigt. Es zeigt alles und hält alles fest, und doch lässt es niemanden wirklich berühren. Zwei Menschen können ihre Hände fast aneinanderlegen, nur durch dünnes Glas getrennt – und doch bleibt eine unsichtbare Härte zwischen ihnen. Nähe ohne Wärme. Offenheit ohne Geborgenheit.

Manchmal, wenn die Sonne auf die Wände fällt und dagelassen in tausend Farben aufbricht, Glauben die Menschen für einen Atemzug, dass es anders sein könnte. Dass hinter der Klarheit eine Welt wartet, in der Durchsichtigkeit Vertrauen bedeutet, nicht Kälte. Eine Welt, in der Glas nicht trennt, sondern verbindet.

Vielleicht ist das die Wahrheit: Die Gläserne Welt ist kein Gefängnis, sondern ein Spigel. Sie zeigt uns, wie verletzlich wir sind – und wie groß unsere Sehnsucht nach dem Geheimnis, nach Stille, nach Platz für uns allein ist.

Und vielleicht beginnt das Glas genau dann zu leuchten, wenn wir nicht mehr nur darin gefangen sind, sondern ihm unsere Stimme geben. Wenn wir es nicht als Mauer sehen, sondern als etwas, das wir berühren, formen, zum Klingen bringen können.

Dann wird die Gläserne Welt nicht mehr nur kalt und durchsichtig sein. Sie wird lebendig.


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