Außer Atem sprintet er Richtung Bahnstation, mit dem letzten bisschen Kraft, die der Kaffee ihm noch gegeben hat, rennt er die Treppe rauf, während er wohl wahrscheinlich, wie ein halbtoter Hund klingt. Er sieht seinen Zug im Augenwinkel losfahren. „Tja, der Zug ist wohl leider für dich abgefahren“, schmunzelt ein bereits aus dem Zug ausgestiegener Fahrgast. „Wie erkläre ich jetzt meinem Chef, dass ich zu spät bin?“, fragt er sich, wartend auf den nächsten Zug.
Nach einer Ewigkeit ist er endlich mit der Arbeit fertig, bei verregnetem Wetter und melancholischer Rockmusik, die andere als Verlassener-Familienvater-Rock abstempeln würden, geht er trotz Regens wieder Richtung Bahnhof. Er hat zwar einen Regenschirm dabei, will diesen allerdings nicht benutzen. Der Song ist fast zu Ende, doch ist er immer noch in Gedanken des anstrengenden Tages versunken. Immer wieder argumentiert er hin und her, was er nun tun sollte wegen des neuen Kundenauftrages. Er weiß, der Auftrag ist ein Problem für die Zeit, wenn es dann so weit ist, und doch scheint der Diskurs in seinem Kopf nie zu enden. Der nächste Song kann wohl am besten mit Hammerklopfen und einer Brise Tiergeschrei beschrieben werden.
In der Musik versunken und auf den Zug wartend, bemerkt er eine Meldung auf der Anzeigetafel: “Achtung, Zug fährt durch, werfen Sie Ihre Kinder nach vorn und retten Sie sich selbst“. Verdutzt wirft er seinen Blick erneut auf die Anzeige. „War doch nur ein Hirngespinst“. Er nimmt die Kopfhörer ab, um die Durchsage zu hören – nur um sicherzugehen. Sein Blick wendet sich unterbewusst auf zwei wartende Kinder, eines davon meint, es habe bei durchfahrenden Zügen immer Angst, was, wenn der Zug es einfach mitnähme? Aus dem Nichts sieht er jemanden vor sich.
Eine wunderschöne Frau mit feurig rotem Haar mitten auf den Gleisen stehend, nein, eher schwebend. Beim Versuch, eine verständliche Frage zu formulieren, bemerkt er, dass er selbst am Rand des Bahnsteiges steht und schon sprungbereit ist. Nicht wirklich überrascht, wendet er seinen Blick nach rechts und sieht die Lichter des Zuges auf ihn zukommen.
Seufzend wendet er seinen Blick zu ihr und meint: „Jetzt ist es auch schon zu spät“, sie schaut ihm tief in die Augen, der Blick, e s wirkt für ihn, als ob sie durch seine Augen hindurch – tiefer– schaue dennoch ist es kein urteilender Blick, vielmehr ein warmer, zärtlicher Blick, er erinnert an den Blick, den man einem Neugeborenen zuwirft.
Hoffnungslos erwidert er ihren Blick und beginnt zu philosophieren: „Warum soll ich jeden Tag in der Früh aufstehen? Was bringt es mir, wenn alles Glück der Welt – mit immer mehr Trauer und Schmerz – zurückkommt? Ich schaff es kaum noch – mich am Abend zu motivieren in der Früh aufzustehen, wie oft schon wollte ich in der Früh nicht mehr aufstehen – wie oft schon – habe ich es versucht?“
Sie erwidert ihm ruhig und sanft: „Ich weiß, du fühlst dich allein, aber du warst nie allein. In deinen dunkelsten Stunden hat jeder mit dir gelitten, und wenn du es endlich überstanden hast, haben alle gejubelt und gefeiert. Es kann sein, dass dein Herz an manchen Tagen in tausend Splitter zersprungen ist, aber selbst Glas kann man schmelzen und neu formen.“
Sie erkennt den Ausdruck in seinem Gesicht, es ist der eines Kindes, das immer wieder über die gleichen Fehler belehrt wird mit dem Wissen, diesen wieder zu begehen. „Menschen machen Fehler und doch stehen sie immer wieder auf, das macht euch so besonders“.
Sie streckt ihre Hand aus und schmeichelt um sein Gesicht, mit ihrem Daumen berührt sie sanft seine Augenlider, er sieht eine Vision: Er mit einer Frau in den Armen – noch viel mehr als es zu sehen, spürt er es. Er öffnet seine Augen und sieht den Zug anfahren, das Hupen des Zuges ertönt laut im gesamten Bahnhof, er hat noch Zeit stehen zu bleiben und auszuweichen. Er seufzt einmal tief und trifft seine Entscheidung.