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Das rauschende Gefängnis

Jakob Murko

Habe ich den Herd ausgemacht?" „Mein Gott, hoffentlich sieht niemand, dass ich zittere.  

„Warum lächelt sie nicht zurück? Habe ich was falsch gemacht?"

„Wenn ich heute Abend wieder allein bin, halt ich's nicht mehr aus."

„Der Typ sieht mich an, als wüsste er alles über mich...

Stimmen. Immer Stimmen. Keine wirklichen Stimmen, sondern Gedanken, die ihn wie ein unaufhörliches Rauschen umgaben. Leon konnte keinen Schritt durch die Straßen machen, ohne von den innersten Welten der Menschen überflutet zu werden. Er sah ihre Gesichter - und dabei ihre Masken fallen.

Jeder Zweifel, jede Lüge, jede Sehnsucht stand für ihn so deutlich da wie ein riesiges Werbeplakat.

Anfangs glaubte er, es sei ein Geschenk,

wer wollte nicht die Wahrheit kennen, wer wollte nicht die Täuschung anderer durchschauen. Doch bald bemerkte Leon, dass Wahrheit eine Last ist. Es gibt keinen Zauber in Begegnungen, wenn man schon vor dem ersten Wort weiß, was der andere denkt. Kein Geheimnis, keine Spannung, nur nackte, trockene Innenwelten, von Menschen, die er nie gebeten hatte zu sehen.

 

In Cafés setzte er sich in die dunkelsten Ecken, doch auch dort rauschte es: Rechnungen, die nicht bezahlt werden konnten, heimliche Begierden, kleine Gemeinheiten, verborgene Ängste. Alles schwappte über, wie Wasser in einen zu kleinen Glas. Er fing an, Menschen zu meiden, keine Gespräche, keine Nähe. Wer könnte es ertragen, wenn man die Schattenseite jedes Lächelns kennt?

Leon traf eine Frau, die ihm gefiel, mit warmer Stimme und freundlichen Augen, doch alles was er hörte war: „Er wirkt interessant... aber vielleicht ist er langweilig im Bett.

" Noch bevor sie die Hälfte des Kaffees getrunken hatten, war Leon verschwunden.

So wurde die Welt um ihn herum gläsern. Kein Geheimnis, keine Undurchsichtigkeit, keine schützende Hülle. Alles war sichtbar, durchsichtig wie Glas - und zugleich scharfkantig, verletzend. Leon konnte niemanden berühren, ohne sich an der Wahrheit zu schneiden.

Nachts lag er wach und lauschte der Stille, doch auch die Dunkelheit brachte keine Ruhe. Die Gedanken der Stadt drangen zu ihm wie ferne Funksprüche:

Verzweiflung, Gier, Hoffnung, Schuld. Er wusste mehr über die Menschen, als sie jemals voneinander wissen würden - und fühlte sich doch unendlich allein. Manchmal wünschte er sich, er wäre blind für all das, taub für das Rauschen der Gedanken. Dass er einfach jemandem begegnen könnte, ohne ihn sofort zu durchschauen. Er sehnte sich nach dem Geheimnis des Anderen, nach dem tastenden Erkennen, nach dem zögernden Vertrauen, das sich langsam aufbaut.

Aber in seiner gläsernen Welt war dafür kein Platz.

So wanderte er weiter, von Stimmen begleitet, in einer Welt ohne Mauern, ohne Schleier - und ohne Trost.


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