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Die Stadt aus Fensterglas

Daniel Kern

In einer fernen Stadt namens Perak bestand alles aus Fensterglas. Häuser, Straßen und selbst die Bäume glänzten durchsichtig. Die Menschen lebten in gläsernen Häusern, deren Wände keinen Schatten warfen. Jeder konnte dem anderen ins Leben schauen, und so glaubten die Bewohner, wahrhaft ehrlich zu sein. 

Niemand konnte lügen, niemand etwas verbergen. „Wir haben nichts zu verstecken“, sagten sie stolz. Doch mit der Zeit bemerkten manche, dass völlige Durchsichtigkeit auch schwer sein konnte.

Fiona, ein junges Mädchen, saß oft am Fenster ihres Hauses. Sie sehnte sich nach einem Ort, an dem nur sie allein sein durfte. Eines Tages entdeckte sie einen feinen Sprung im Glas. Statt ihn zu reparieren, beugte sie sich näher. Durch den Riss wirkte die Welt draußen verschwommen, fast geheimnisvoll.

Mit jedem Tag wuchs der Sprung, zeichnete Muster ins Glas. Für Fiona wurden die Linien zu Geschichten, die nur sie lesen konnte. Doch die Nachbarn runzelten die Stirn. „Dein Glas ist beschädigt! Es ist nicht mehr vollkommen durchsichtig.“

Liora lächelte. „Gerade darin liegt seine Wahrheit. Nicht alles muss klar sein, um schön zu sein.“

Bald ließen auch andere kleine Risse in ihren Fenstern zu. Die Stadt blieb hell, doch jedes Haus trug nun eigene Muster, die das Licht in Regenbögen brachen.

So lernten die Menschen von Claris: Das Leben ist gläsern, doch erst die Risse machen es einzigartig.

 


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