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Fensterfront

Seraphina Stelzer

Ich öffne die Tür.  

Mann, war ich lang nicht mehr hier! So leer hab ich das Haus noch nie gesehen. Ich mein, es hat sich mit den ganzen monotonen Möbeln schon immer sehr leer angefühlt, aber das ist eben anders. Bei dem Anblick würde man garnicht denken, dass hier mal wer gewohnt hat. Alles Pikobello, wie neu gebaut, naja, bis auf den Kartonberg in der Ecke. Dann fang ich jetzt mal an den Wagen zu beladen. Bei den vielen Umzugskartons muss ich sicher öfter gehen. Wow, ich hab noch nie bemerkt, dass die Fensterfront so groß ist. Der Ausblick ist immer noch gleich, ich weiß wirklich nicht, welcher Architekt sich ausgedacht hat, eine Fensterfront zu bauen, durch welche man von mehreren Häusern aus perfekt hindurch gucken kann. Die Nachbarn haben damals fast rund um die Uhr herüber geschaut, nur dann immer nicht, wenn es nötig gewesen wäre. Immer wenn es passierte, sahen sie nicht zu, aßen zu Abend, arbeiteten, waren im Urlaub oder haben Gott-weiß-was getan.

Hätte auch nur einer von ihnen sich an ihr Fenster gestellt. Es wäre mir so Vieles erspart geblieben. So viele Lügen, so viele Schmerzen. All die Jahre lang, jedes einzelne Mal habe ich ein Fenster nach dem anderen abgesucht, nach irgendwem, egal wem. Hätte sich nur einer der Erwachsenen darum geschert, hätte nur einer von ihnen ein zweites Mal nachgefragt, wie es mir geht. Ich meine, ein Kind sollte so viel doch nicht ertragen müssen, oder? Und erst recht nicht ganz alleine!

Egal wie sehr ich es wollte, ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, wenn ich sie vorbeigehen sah. Die glücklichen Bilderbuchfamilien. Was ich nur dafür gegeben hätte, um mich einmal so geliebt zu fühlen.

Ich beneide heute noch jeden, der nicht bei jedem Zufallen einer Tür aufschreckt.

Das Glas ist wirklich super klar, keine Flecken oder Ähnliches und von außen auch nicht verspiegelt oder abgedunkelt. Es scheint fast so, als ob man einfach hindurchgehen könnte. Früher war es anders, es fühlte sich hier wie ein Gefängnis an. Als wäre man die Hauptattraktion in einem Zoo, alle finden dich interessant, solange du dich nicht beschwerst oder wehrst. Damals hab ich mir immer gewünscht, mich einfach wegzureißen und in die Freiheit zu laufen. Wenn man es genau nimmt, hab ich das ja jetzt geschafft. Es hat zwar einige Jahre gedauert und war viel schwieriger als gedacht, aber ich bin frei. Frei von all dem Leid, von diesen Menschen, von diesem Haus. Würde ich das meinem kleineren Ich erzählen, würde sie mir bestimmt erstmals nicht glauben, aber dann… dann wäre sie unglaublich stolz.

Jetzt gibt es nur noch eine Sache, mit der ich sie noch stolzer machen würde. Dieser Briefbeschwerer hat das perfekte Gewicht. Weit ausholen, 3,2,1 und zack!

 Oh man! Ich hätte nie gedacht, dass Glas so laut sein könnte, die Scherben reichen bis an das andere Ende des Raumes.

So ein Chaos und dennoch war dieses Zimmer noch nie so friedlich.


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