Eigentlich war längst Schlafenszeit. Doch Esther wollte noch nicht schlafen. Sie hatte sich unter der Decke versteckt, die Taschenlampe erleuchtete die behelfsmäßige Höhle, die sich um sie herum gebildet hatte. In der zierlichen Hand hielt sie die Schneekugel, betrachtete und schüttelte sie, wog sie im Arm wie ein kleines Kind.
Sie sah hinein und die kleinen Figuren zu ihr hinaus. Zwei waren es, zwei Kinder um genau zu sein. Beide trugen Schals und Mützen, dicke Jacken und Stiefel. Mimi mochte den Schal des Mädchens; er war grün-violett gestreift. Eines der Kinder formte gerade einen Schneeball, während der des anderen Kindes, sich bereits auf die Reise gemacht hatte und nun in der Luft erstarrt war. Esthers Blick huschte über das verschlafene Städtchen, das sich hinter den Kindern auftat und von einer dünnen Schicht Staubzucker bedeckt war. Immer wieder kehrte ihr Blick jedoch zu den weißen Flocken zurück, die jedes Mal umher wirbelten, wenn sie die Kugel nur fest genug schüttelte.
Sie mochte den Schnee, wie er glitzerte und funkelte. Er hatte etwas Magisches an sich so wie die Geschichten, die Mama ihr immer erzählte. Geschichten, in denen Feenstaub und Wunder die Welt regierten. Geschichten, in denen Liebe die Welt regierte.
Esther kroch unter der Decke hervor und robbte bis zum Ende ihres Bettes, wo sie die nackten Füße auf den kalten Holzboden stellte; die Schneekugel hielt sie fest umklammert, als wollte sie ihr jemand gewaltvoll entreißen. Über die dunklen Dielen tapste sie zu dem großen Fenster neben ihrem Bett und stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Fensterbrett ab. Ihre großen Augen fanden die bittere Realität. Autos. Fehlende Türen und zersplitterte Scheiben waren noch das geringste Übel. Gefahren wurde mit ihnen schon seit Jahren nicht mehr. Wie auch? Es gab ja nur noch verschwindend geringe Mengen Erdöl. Bäume. Die Äste hingen traurig hinunter. Sie hatten ein kaltes Braungrau als Grundton angenommen. Straßenlaternen gab es keine. Oder zumindest brannten sie nicht. Der Mond war die einzige Lichtquelle in dieser dunklen Dezembernacht, doch auch er hatte Mühe, sich durch den undefinierbaren Dunst zu kämpfen, der alles überlagerte. Heizen taten sie schon lange nicht mehr. Esther hatte vergessen, wie sich warme Hände im Winter anfühlten. Normalerweise trug sie zumindest drei Schichten in der Wohnung, nur zum Schlafen beschränkte sie sich auf einen langen Pyjama und eine Strickjacke, bevor sie so schnell wie möglich unter die schützende Decke flüchtete.
Dorthin floh sie auch jetzt wieder, zog den Stoff bis unter das Kinn hoch und zog ihre Füße an, um sie am restlichen Körper zu wärmen. Die Schneekugel hatte sie fest an sich gepresst, während ihre Lider erschöpft flatterten. Es war ein verzweifelter Versuch, das Stück heile Welt, das ihr blieb, bei sich zu behalten, bevor der Schlaf kam und sie hinfort spülte. Mit etwas Glück würde sie die feuchte Kühle von Schnee auf ihrer Haut spüren. Und das auch noch ohne zu frieren.