Sie sagen, wir leben in einer schönen, neuen Welt. Einer Welt aus Glas. Alles ist durchsichtig, alles ist sichtbar, alles ist erreichbar – mit einem Wischen, einem Klick, einem Like.
Wir wohnen in Häusern mit Fenstern, die nicht mehr nach draußen schauen, sondern hinein – in uns. In unsere Gedanken, in unsere Sehnsucht, in unsere Fehler.
Siehst du mich? Nicht mein Gesicht, nicht mein Lächeln, sondern das, was darunter brennt? Meine Angst, dass ich nicht genug bin? Meine Scham, dass ich zu oft schweige, wenn ich schreien muss.
Wir leben in einer Welt. Die glänzt. Sie funkelt wie frisch geputztes Glas. Makellos, unantastbar, und tödlich still.
Denn alles ist sichtbar. Alles. Jeder Gedanke, jede Schwäche, jeder Fehler – ausgeleuchtet wie ein Schmetterling unter einer Nadel im Schaukasten.
Man sagt: Das ist Fortschritt. Man sagt: Das ist Freiheit. Doch ich frage mich: Seit wann bedeutet Freiheit, dass man keine Geheimnisse haben darf?
Ich sehne mich nach Dunkelheit. Nach einer Ecke, in der man weinen kann, ohne dass jemand mitzählt, wie viele Tropfen. Nach einem Wort, das ich sagen darf, ohne dass es gespeichert wird, geteilt, geliked, kommentiert.
Früher waren Geheimnisse heilig. Heute sind sie nur noch Datenpakete. Früher war ein Blick ein Versprechen. Heute ist es der Barcode, den andere scannen können.
Und wir?
Wir lächeln, weil wir wissen: Das Lächeln verrät weniger als der Blick. Wir berühren uns nicht mehr, weil jede Berührung gelesen werden kann, wie eine offene Akte.
Manchmal denke ich: Wir sind selbst das Glas. Durchsichtig, fragil, nur stark, solange niemand wirklich Druck auf uns ausübt. Wir halten stand, bis der erste Riss kommt. Und dann – zerspringen wir in tausend Stücke.
Doch vielleicht ist genau das die Rettung. Denn Scherben schneiden, ja – aber sie glitzern auch. Sie erinnern uns daran, dass wir nicht perfekt sein müssen, um schön zu sein. Dass ein Bruch ehrlicher sein kann als jede makellose Fassade.
Ich träume von einer Welt, in der man wieder flüstern darf. In der man sich wieder traut, nicht alles zu zeigen. Wo Geheimnisse nicht Gefahr sind, sondern Heimat. Wo ein Herz noch schlagen darf, ohne dass man es vermisst, wenn es mal stolpert.
Und bis dahin?
Sammle ich Splitter. Die kleinen Brüche, die mich lebendig fühlen lassen. Die Momente, in denen jemand mich anschaut und nicht durch mich hindurch.
Vielleicht irgendwann, werden wir wieder lernen, wie man in der Dunkelheit vertraut. Wie man im Verborgenen atmet. Wie man Mensch ist, ohne immer sichtbar sein zu müssen.
Und vielleicht ist genau das der ERSTE Riss im Glas.