Langsam öffnet sie ihre Augen. Orientierungslos suchen die Pupillen nach etwas, das ihr verrät, wo sie geschlafen hat. Mit ruhigen Händen tastet sie neben sich auf dem Nachtkästchen nach ihrer Brille. Doch der Griff ging ins Leere. Erst als ihre Augen scharf stellen und sie die Lampions von der Decke hängen sieht, die dort seit ihrem 17. Geburtstag hingen, wird ihr bewusst, dass sie wie gewohnt in ihrem Bettchen zuhause aufwachte. Sie kann es kaum fassen. Alles ist so wie es immer war. Hastig steht das Mädchen auf und eilt zum Spiegel. Er ist mit bunten Notizzetteln von Songtexten ihrer Lieblingslieder geschmückt. BUMM! Es trifft sie wie ein schlag mitten in den Bauch. Vor ihr steht das schönste Mädchen, dass sie je gesehen hat. Das weite Shirt in dem sie, wie jede Nacht geschlafen hat hängt wie ein zu großer Sack an ihrem zarten Körper herab und bedeckt sie bis zur Hälfte der Oberschenkel. Das Mädchen erinnert sich, wie viele Stunden sie daran verschwendet hatte sich sorgen zu machen was passieren würde, sollten sich diese irgendwann Berühren. Stunden zögerte sie die nächste Mahlzeit hinaus, bis der Appetit doch wieder von selbst verschwunden war…Schwachsinn! Jetzt fallen ihr auch die Bemerkungen ihrer Großmütter wieder ein: „Ach wie liab du heut scho wieder bist, mein Mädchen. Aber viel zu dünn! Komm wieder amal vorbei und i koch dir a paar Knöderln.“ Das konnte sie sich bei jedem Familienfest anhören. Sie glaubte ihnen nicht.
Als jede Gliedmaße, jedes Stückchen Haut und jedes Haar einmal genauestens unter die Lupe genommen wurde bewegt sie sich auf ihren Kleiderschrank zu. Sie schnappt sich das freche, bunte Kleid, dass sie sich nie traute anzuziehen. Sie fürchtete es würde zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und bereute die Kaufentscheidung noch am selben Tag...So eine Geldverschwendung dachte sie. Doch heute nicht. Heute sollte sie jeder sehen.
Mit dem Kleid angezogen, den Haaren offen und struppig wie ihre Naturwellen es wollten und viel zu viel Glitzer um den Augen, bewegt sie sich vorsichtig aus ihrem Zimmer. Das Mädchen weiß, was nun auf sie zukommen wird, und trotzdem kann sie sich kaum auf ihren Beinen halten. So schnell klopfte ihr Herz schon lange nicht mehr und ihre Knie sind weich wie Butter. Sie will gerade weitergehen da hört sie einen leisen, hellen Klang. Obwohl so leise ist er gar nicht. Eher ein gleichmäßiges Brummen das aus dem Badezimmer dröhnt. Ihr war gar nicht mehr bewusst gewesen, wie laut der Ton der Elektrozahnbürste war. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, was sie heute noch alles hören wollte, erblickte sie auch schon die Quelle des Geräusches. Trotz der Gelenke aus Gummi rennt sie nun los immer schneller und schneller bis sie mit einem heftigen WUMMS in die Rücken ihrer Eltern knallt. Noch nicht begreifend was geschehen war standen sie beide verdutzt da. Nach wenigen Sekunden schalten sie die Zahnbürsten aus legten sie auf den Waschbeckenrand und zogen ihre Tochter in eine Gruppenumarmung. Ihr kommen die Tränen.
Langsam öffnet sie die Augen. Als sie aufwacht, liegt sie im Bett und sieht über sich die Decke mit den 48 grauen, quadratischen Paneelen. Sie zählt sie mindestens fünf Mal am Tag, weil es eine Arbeit ist, die weder ihre schweren Beine noch ihre zitternden Hände beansprucht. Manchmal werden jedoch ihre Augen bei etwa der Hälfte zu müde und sie muss abbrechen, bevor auch ihr Kopf zu schmerzen beginnt.
In ihren 81 Jahren musste sie nie bei einem Film weinen. Außer das eine Mal bei WALL-E aber das zählt nicht. Als ihr jedoch der Traum wieder durch den Kopf zieht, merkt sie wie die Sicht, zusätzlich zur üblichen Trübheit, noch etwas unklarer wird. Wie sehr wünscht sie sich diesen Moment noch einmal erleben zu dürfen. Noch ein einmal 18 sein. Jetzt würde sie es wertschätzen. Sie würde ihre Leben, ihr Umfeld, ihre Eltern, ihre scharfen Sinne, ja sogar ihren Körper wertschätzen. Sie würde sich lieben.