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Nur ich sehe sie

Gleich wie jeden Abend nimmt Stella ihre Schneekugel und putzt sie sorgfältig. Kein Kratzer, kein Staub. Sie liebt diese Kugel über alles, auch wenn alle sagen, sie sei kindisch.

An diesem Abend aber ist etwas anders. Tränen tropfen auf das Glas.

„Warum sagen alle, dass das so blöd ist? Ich hasse diese Kugel“, flüstert sie, obwohl sie genau weiß, dass das nicht stimmt.

Sie will sie wegstellen. Einfach vergessen. Aber ihre Finger bleiben am Glas haften, als würde es sie nicht loslassen wollen.

Und dann beginnt es: Der Schnee in der Kugel wirbelt plötzlich heftig auf. Nicht wie sonst, wenn man sie schüttelt, sondern von allein.

Mitten in der Kugel steht ein kleines Mädchen mit rotem Mantel. Eigentlich war es immer nur eine Figur. Regungslos. Doch jetzt hebt sie den Kopf. Stella starrt auf das Glas. Das kann nicht sein. Aber das Mädchen bewegt sich. Langsam, ganz klar. Es dreht sich, schaut sie an. Und dann winkt es.

Stella hält den Atem an.

Das kleine Holzhaus in der Mitte leuchtet plötzlich. Fenster flackern wie Kerzenlicht. Andere Figuren, vorher immer starr, bewegen sich. Ein Mann mit Hut geht über die Brücke. Ein Hund wackelt mit dem Schwanz.

Die Welt in der Kugel lebt. Wie kann das sein?

Am nächsten Tag will Stella, es ihrer Mama zeigen.

„Mama, guck mal! Da drin… sie bewegen sich!“

Aber ihre Mutter sieht nur Schnee und Plastik.

„Stella, du bist fünfzehn, keine fünf mehr. Konzentrier dich lieber auf die Schule und wichtige Dinge im Leben.“

Seitdem sagt sie niemandem mehr etwas. Aber jeden Abend, wenn es düster wird nimmt sie die Kugel wieder in die Hand. Sie erleuchtet in den schönsten warmen Farben. Und jedes Mal bewegt sich darin etwas mehr.

Sie entdeckt neue Dinge, die vorher nie da waren wie kleine Herzchen im Schnee. Eine winzige Schaukel, die leicht schwingt.

Und eines Tages steht auf der Brücke ein Schild. Darauf steht:

„Wir sehen dich.“ Stella beginnt damit kleine Zettel unter die Kugel zu legen. Fragen, die sie nicht aussprechen kann.

„Wer seid ihr?“

„Bin ich verrückt?“

„Warum zeigt ihr euch nur mir?“

Die Antworten kommen leise. Nicht als Stimme, sondern im Schnee, in Formen, in Bewegungen.

„Du fühlst uns.“

„Du gibst uns Leben.“

„Du bist nicht allein.“

Es ist nicht mehr nur e ine Schneekugel. Es ist ihre Zuflucht.

Während draußen alle sagen, sie sei komisch, zu ruhig, zu anders, antwortet die Welt in der Kugel ihr mit Wärme.

Da drinnen ist jemand, der sie wirklich sieht.

Mit der Zeit taucht eine neue Figur auf. Ein zweites Mädchen, das nie dort war. Schwarze Haare, Mütze mit kleinen Sternen. Sie steht erst am Rand. Jeden Abend kommt sie ein Stück näher.

Stella hat keine Angst mehr vor dem, was sie sieht.

Die Kugel ist mehr als Glas. Mehr als Deko. Sie ist eine Welt. Und sie ist echt.

Dann, eines Abends, bleibt alles plötzlich still. Kein Schneefall. Keine Bewegung. Kein Licht.

Stella schluckt. „Was ist los?“ flüstert sie.

Sie wartet. Minutenlang.

Dann erscheint ein Lichtpunkt auf der Brücke. Und daneben steht eine neue Nachricht im Schnee.

„Willst du zu uns kommen?“

Stella legt ihre Hand auf das Glas. Es ist warm. Fast lebendig.

Und dann hört sie ein leises Knacken. Schneeflocken kamen heraus wie ein Wirbelsturm. Aber anders als gedacht sie hatte keine Angst es war warm und fühlte sich geborgen an.

Sie lächelt.


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