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Transparentes Leben

Wieder einmal gehe ich ungeachtet durch die Stadt. Allein. Transparent und unscheinbar. Keiner achtet auf mich. Jeder einzelne ist nur beschäftigt mit sich selbst. Niemand achtet auf die Obdachlosen, die allein am Straßenrand sitzen. Niemand achtet auf die Kinder, die ohne Begleitung durch die Straßen ziehen. Keiner schenkt denen Beachtung, die es im Moment eigentlich nötig hätten. Manchmal stelle ich mir eine Welt vor, in der nicht jeder ichbezogen durch die Straßen zieht, sondern auch auf andere achtet. Denn in dieser Welt schauen viele durch den anderen durch, als wäre er transparent. Nicht wichtig. Nicht real. Als hätte dieser Jemand keine Funktion, wie ein leeres Glas, das allein im Kasten steht. Aber wenn es einmal herausgenommen und verwendet wird, stellt sich heraus, dass es sehr wichtig ist.

Wenn ich abends in Bett gehe, stelle ich mir manchmal die Frage wie es wohl wäre, wenn ich die Leute kennen würde, denen ich immer über den Weg laufe. Tag für Tag. Würden sie mich grüßen? Mich beachten? Mir einen schönen Tag wünschen? Ich werde es wohl nie erfahren. Aber vielleicht doch? Wer weiß, ob dieser Tag schon morgen sein mag. Tja, wie heißt es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Ein neuer Tag hat begonnen. Ich schlendere mit dem Gewissen, dass sich eh niemand für mich interessiert, in meine Arbeit. Ich setze mich hin, lege meine Utensilien ab und schaue auf den Plan, der für diesen Tag ansteht. Ich studiere den Plan gewissenhaft und konzentriert, als es plötzlich an der Tür klopft. Mein Kollege Gerd sagt „Herein!“, was mich verdutzt aufschauen lässt, da ich das von ihm ganz und gar nicht gewohnt bin, irgendetwas zu erwähnen. Die Tür geht auf und ich erkenne eine junge Frau, die nett zu sein scheint. Aus dem Nichts sagt Gerd: „Hallo Elisabeth! Wie geht es dir? Schön, dass du bei uns zu arbeiten beginnst!“ „Herzlich Willkommen, Elisabeth“, erwähne ich, froh, dass wir neuen Zuwachs haben. Denn ich fühle mich hier andauernd einsam, weil keiner mit mir redet. Fragen kommen in meinen Kopf. Woher kennt denn der zurückhaltende, langweilige Gerd, unsere neue Mitarbeiterin? Und wieso grüßt er sie, und uns andere nie? Na ja, so ist er eben. Der zurückhaltende Gerd. Gespräche mit ihm aufzubauen ist auf Dauer sehr schwierig, da er sich nie unterhalten möchte. In den Pausen wäre es aber schon sehr nett, einen Gesprächspartner zu haben. Vor allem hier, an diesem Ort, der für das Gefühl Einsamkeit einfach nur perfekt geschaffen ist.

Ich sitze, mehr oder weniger, entspannt auf meinem Sessel und gehe die Akten, Zeile für Zeile, durch. Gerd hat Elisabeth schon ein bisschen eingeführt, ihr schon ihren Platz zugewiesen und ihr gezeigt, wo wir unsere gesprächslosen Pausen führen. Zu meiner Freude sitzt Elisabeth direkt vor mir, Gerd noch immer rechts neben mir. Als die Uhr zwölf schlägt, rufe ich laut in den Raum „Pause!“. Im gegenüberliegenden Raum ebenso. Hier in unserer Kanzlei haben immer nur zwei Büroräume gleichzeitig Pause. Voller Vorfreude auf mein Brot, nehme ich meine Tasche und schlendere aus dem Raum, als Elisabeth sich zu mir dreht und mich fragt, ob ich mit ihr gerne Pause machen möchte. Ich denke ich höre nicht recht. Jemand möchte mit mir, Paulina, gemeinsam essen. Ich sage, vielleicht etwas zu übertrieben „Ja! Gerne!“ Etwas überrascht von meinem Tonfall, aber mit trotzdem nettem Gesicht lächelt sie mich an. Sie könnte eine Freundin von mir werden! Das wäre doch schön. Denn hier fühle ich mich, als wäre ich jedermanns Feind. Im Pausenraum angekommen, setzen wir uns hin und öffnen unsere Jause. Voller Genuss beiße ich in mein Brot. Elisabeths Augen werden groß und sie antwortet: „Ich habe mir heute auch ein Brot eingepackt! Sind wir zufällig seelenverwandt?“ Wir beide beginnen lauthals zu lachen. „Das ist wirklich ein lustiger Zufall. Weißt du Elisabeth, ich fühle mich gerade echt wohl. Denn ich bin nicht allein.“ Sie lächelt mich an und ich lächele zurück.


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