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Spiegelbild

Meine Hand wird nach oben gezogen. Ich will diese Bewegung nicht durchführen, lasse es aber trotzdem zu. Ich habe mich schon zu lange gewehrt. Ich kann nicht mehr. Vielleicht würde ich weiter dagegen ankämpfen, wüsste ich, dass es einen Sinn hätte. Tut es aber nicht. Sich zu wehren macht nichts besser. Man versucht verbissen gegen Dinge anzukämpfen, die Gesetz sind.  

Gerade streife ich mir einen pinken Pullover über, den ich hässlich finde, und gehe dann dazu über, meine Haare zu einem strengen Zopf zusammenzubinden. Ich will keinen Zopf. Er zieht fürchterlich und bereitet mir jetzt schon Kopfschmerzen. Aber ändern kann ich nichts. In manchen Momenten hasse ich die Person, die mir das antut. Doch eigentlich bin das ja ich; nur in einer anderen Welt. In einer Welt, in der ich frei wäre. In einer Welt, in der ich eine echte Familie hätte. Vielleicht auch Freunde? Doch jetzt bin ich eine Marionette. Ich werde wie sie mit unsichtbaren Fäden gesteuert. Hebe meine Hand, wenn der Faden nach oben gezogen wird, habe ein Lächeln im Gesicht oder auch eine traurige Miene aufgesetzt. Ich möchte das alles selbst entscheiden. Doch alles wird ohne mich bestimmt. Ich befolge nur.

Ich wünschte, jemand würde erkennen, dass ich Gefühle habe, dass ich Träume habe. Ich wünschte, man würde mich wie einen normalen Menschen wahrnehmen. Ich wünschte, ich könnte all das in die große weite Welt hinausschreien. Aber egal wie sehr ich mich anstrenge, kein Laut verlässt meine Lippen. Nicht mal mein Mund lässt sich öffnen. Stattdessen lächelt mich mein Gegenüber nur an. Ich lächle zurück.

Wenn das so weitergeht, weiß ich nicht, wie ich das mitmachen soll. Es macht mich kaputt. Schon seit Jahren. Ich will das alles so nicht mehr. Fest nehme ich mir vor, bei der nächsten Gelegenheit zu streiken. Vielleicht bringt es dieses Mal etwas. Überzeugt bin ich selbst nicht davon, aber was bleibt mir anderes übrig?

Einige Stunden später stehe ich wieder am selben Ort. Vor dem Spiegel. Ich kann diesen Ort nicht leiden, doch trotzdem ist es der einzige Platz, wo ich wirklich existiere. Wo ich Realität bin. Durch ein Aufschluchzen werde ich in das Hier und Jetzt zurückkatapultiert. Weinend stehe ich vor meinem Spiegelbild und wundere mich, was passiert ist. Warum meine Wimperntusche mir wie ein kleiner schwarzer Bach aus Trauer, den geröteten Wangen hinunterläuft. In mir regt sich das Gefühl von Mitleid. Ich würde sie gerne trösten. In die Arme schließen und ihr beruhigende Worte zu flüstern. Doch ich kann nicht. Wieder einmal werde ich von den unsichtbaren Seilen aufgehalten und kann nur die Bewegungen meines Gegenübers mimen. Wie sehr ich es hasse. Ich kämpfe weiter dagegen an. Aber ich bewege mich nicht. Keinen Zentimeter, nicht einmal einen Millimeter. Geschwächt gebe ich wieder einmal auf und erschrecke. Durch meine verzweifelten Versuche habe ich nicht gemerkt, wie aus den traurigen Augen plötzlich Wütende geworden sind. Voller Hass blicken sie mir entgegen. Und ehe ich mich versehe, schlägt sie zu. Ich auch. Das Glas zwischen uns bekommt einen Sprung. Es fühlt sich an, als hätte man mir eine Klinge eines Schwertes quer über den Körper gezogen. Alles brennt. Ich kann nicht mehr klar denken. Was passiert hier? Ein Ruck durchfährt meine Gelenke und ich schlage wieder zu. Meine Faust trifft exakt auf die gegenüber von mir. Das Glas springt weiter in kleinere Teile. Dank meines Adrenalins, das durch meine Adern pulsiert, spüre ich den neuen Schmerz kaum. Dennoch kann ich sehen, wie schlimm das Glas schon aussieht. Kann ich weiterleben ohne das Glas? Kann ich sterben? Können Spiegelbilder sterben? Noch einmal sehe ich in meine eigenen Augen. Es tut weh. Es tut weh, von sich selbst zerstört zu werden. Mit ihrem letzten Schlag zersplittert nicht nur das restliche Glas, sondern auch ich. Mein Äußeres, aber vor allem mein Inneres. Das Letzte, was ich noch höre, ist das Klirren der Scherben, als sie am Boden aufschlagen. Es ist mein letzter Schrei.


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