Liebster Wilhelm,
manchmal kommt mir der Gedanke, wir leben in einer gläsernen Welt, durch durchsichtige Barrikaden getrennt voneinander, so nah und doch so fern. Alles, was wir tun, jeder Schritt, jedes Wort und jede Tat scheint beobachtet, alles wird dokumentiert und festgehalten. Sie sagen uns es gäbe keine Grenzen, gleichzeitig gibt es diese durchsichtigen Flächen, die uns voneinander trennen, aber nichts verbergen.
Was vor nicht allzu langer Zeit nur mir gehörte, ist nun nicht mehr meines. Informationen, Interessen, jeder Schritt den ich auf diesen einst so privaten Planeten tätige. Sie, die unsere Bildschirme überwachen, durch Daten forsten, alles wissen, scheuen vor nichts. Manchmal stellt sich mir die Frage, ob wir uns freiwillig zu solch durchleuchteten Menschen gemacht haben, weil wir uns daran gewöhnt haben, alles zu teilen. Ist der menschliche Drang, Informationen weiterzugeben, nun zum Verhängnis eines jeden geworden?
Nun denn, doch ist diese gläserne Schicht trügerisch. Es schützt nicht, es spiegelt nur. Wir sehen uns selbst in der Oberfläche, aber wer dahintersteht, wer genau diese Personen sind, falls sie überhaupt menschlich sind, die uns beobachten, bleibt uns verborgen. Diese Unsicherheit macht mich unruhig. Die Durchsichtigkeit, die uns angeblich Klarheit verschaffen soll, nimmt uns zugleich das Recht auf Geheimnisse, auf kleine geschützte Räume, in denen wir einfach nur wir selbst sein dürfen.
Diese gläserne Welt braucht Risse. Ein Gedanke, welcher mir nun öfters kommt. Risse, durch die wir entkommen können, oder wenigstens Schatten, die uns etwas mehr Unabhängigkeit zurückgeben. Eine Nische, welche ich entdeckt habe, warum ich mit dir so frei kommunizieren kann, das einfache Briefschreiben und simple Vorbeibringen. Genauso wie wir es getan haben in jüngsten Jahren.
Das Leben verliert ansonsten an Tiefe, an Bedeutung, Sinn. Ich habe Angst.
In diesem Gedanken bist du mir oft nahe, weil ich weiß, dass du ebenso die Sehnsucht nach dem Unsichtbaren, nach dem Eigentlichen, verstehst.
Herzlichst,
deine Tatiana