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11:24

11:24. Durchs Fenster schauend sitzt er da, im selben Sessel wie gestern, wie vorgestern, und wahrscheinlich auch den Tagen davor. In seiner Hand die dritte Flasche heute, halb leer. Obwohl er immer der optimistische Typ von Person war, der bei dieser Art von Frage mit halb voll geantwortet hatte. Wobei, wenn er jetzt so darüber nachdachte, das hatte sich wohl über die Jahre verändert. Wie so viel anderes auch. 

Um ihn fühlt sich alles schmerzend laut an, doch in seinem Kopf herrscht Totenstille. Das Klirren der Flasche, wenn er sie absetzt das einzige Geräusch, welches die Stille durchbricht. Wie ein Filter verzieht das Glas die Gesichter, lässt alles verschwimmen, dämpft die Stimmen, macht alles erträglicher.

Wie er dieses Gefühl doch liebte.

Er führt den Flaschenhals zu seinem Mund, spürt wie das dicke Glas der Weinflasche seine Lippen berührt. Spürt wie der Inhalt seinen Körper aufwärmt, das Gefühl ihn umhüllt wie ein dicker, weicher Nebel. Ein bisschen schämte er sich, sich so gehen gelassen zu haben. Doch nach einem weiteren Schluck war auch dieses Gefühl nicht mehr weiter von Bedeutung.

Während sein Blick durch den Raum schweift, realisiert er die Veränderung. Noch vor ein paar Wochen war es hier aufgeräumt gewesen. Jetzt stapelten sich leere Flaschen und Dosen und ein Haufen Scherben in der gesamten Wohnung. In Regalen, auf dem Esstisch und dem Boden. Ein falscher Schritt und die Scherben würden ihn aufschlitzen. Langsam und tief. Einen Schmerz auslösen, den er doch schon so lange versucht hatte zu ignorieren.

In der Ecke fand sich auch ein Bilderrahmen wieder. Der mit dem Glas mit dem Sprung in der Mitte. Mit dem Bild seiner Tochter.

Seiner Tochter.

Ein Schrei reißt ihn aus seinen Gedanken. Er presst seine Augen zu. Nicht jetzt. Nicht schon wieder. Aber er kann es nicht verhindern.

Die Erinnerung holt ihn jedes Mal aufs Neue ein. Er kann sich nicht verdrängen. Seine Tochter sitzt neben ihm im Auto. Draußen ist es kalt, es ist Mitte Dezember. Sie fahren auf die Kreuzung zu. Lachen über einen ihrer ausgedachten Witze. Einen die eine fünfjährige eben lustig findet. Und plötzlich geht alles ganz schnell. Er sieht noch das Licht kommen, hört ihren Schrei, dann alles still.

Langsam hebt er sein Glas. Das Licht bricht sich darin, tanzt über sein müdes Gesicht. Er hält kurz inne und stellt es dann wieder ab.

Er ist gefangen in dieser Welt. Alles hier ist zerbrechlich – fragil. Wird es je besser werden, dieses Gefühl, dieses Leben?

Vielleicht, denkt er.

Vielleicht.


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