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Schuldgefühle

Ich saß auf einer Bank an der Bushaltestelle, den Blick ins Leere gerichtet. Der Himmel war grau, genau so wie mein Inneres. Während mein Fuß unruhig wippte, fiel mir ein Mädchen auf, das sich der Haltestelle näherte. Sie hatte schulterlange, blonde Haare mit sanften Wellen, die im Wind wehten. Ihr Gesicht war zart mit einem hellen Ton und rosafarbenen Unterton. Die hellblauen Augen wirkten freundlich, dezent geschminkt, die Augenbrauen gepflegt. Die Lippen formten ein leichtes Lächeln. Ein Moment der Wärme, der kurz die Schatten in mir brach. 

Doch je länger ich sie ansah, desto deutlicher wurden die Stimmen in mir. Die Erinnerungen kamen zurück. Grell, schmerzhaft und unausweichlich.

Anika Neubauer. Meine erste große Liebe. Wir waren beide zehn, als ihre strahlenden Augen mich trafen. Drei Jahre später starb sie. Auf der Küchentürschwelle ihres Elternhauses verbrannte sie, als sie auf das Essen ihres Bruders aufpassen wollte. Ich hatte es nicht kommen sehen. Der Schmerz ihres Verlustes brannte sich tief in meine Seele. Ein Loch, das niemand füllen konnte.

Dann Hannah Koller. Wir waren fünfzehn. Sie kam aus einer ähnlichen Welt wie ich. Wir hatten die selben Interessen. Doch auf der Beerdigung ihrer Urgroßmutter geschah das Unfassbare. Sie wurde zwischen einem LKW und dem Auto ihrer Eltern zerquetscht. Ich hörte innerlich wieder die Frage: „Was hätte ich tun können?“

Schließlich Camilla Neubauer. Wir waren sechzehn. Ich hatte endlich den Mut gefunden ihr meine Gefühle zu gestehen. Ich wollte sie gerade ansprechen, als sie von der alten Kaskögerlbrücke stürzte und von einem aufrecht stehenden Holzbrett durchbohrt wurde. Es war so grausam und surreal, dass ich es nicht wahrhaben wollte, aber es war Realität. Brutal und endgültig.

Und jetzt saß ich hier. Die Erinnerungen wie Stimmen in meinem Kopf. Der Anblick des neuen Mädchens ließ Panik in mir aufsteigen. Was, wenn ich an den Toden der drei schuld bin und auch ihren verursache?

Ich hörte die Stimmen der drei Mädchen. „Warum hast du uns nicht geholfen?“, flüsterten sie. Ich presste die Hände gegen die Schläfen. „Hört auf!“, murmelte ich. Aber die Stimmen wurden lauter. Es war, als sprachen sie alle die Schuldzuweisungen aus, die ich mir selbst schon so lange machte.

Die Leute an der Haltestelle starrten mich an, ihre Gesichter leer, aber gespannt zu sehen, was passieren würde. Der Bus näherte sich, während mein Inneres tobte. Die Welt verschwamm und das Mädchen wurde zur Silhouette in meinen Gedanken. Die Stimmen kreischten und alles in mir schrie. Und dann tat ich es.

Mit einem Schrei sprang ich auf und lief direkt vor den Bus. Die Augen geschlossen. Ich hörte das Quietschen der Bremsen, ein Hupen, das sich in meine Ohren bohrte und dann Stille.

Ich öffnete die Augen. Ich lag auf dem Boden, unverletzt. Der Bus hatte rechtzeitig gestoppt. Die Menschen sahen mich nun mit sorgenvollen Gesichtern an. Das Mädchen stand im Hintergrund und als ich sie wieder ansah, wurde mir klar: Ich trug die Vergangenheit, aber sie musste nicht meinen Morgen bestimmen. Am ganzen Körper zitternd stand ich auf. Ich drehte mich zu ihr. Ihr Blick traf meinen. Und in meinen Gedanken flüsterten die Stimmen zum ersten Mal: „Lebe“.


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