fbpx

Wir Spiegelbilder

Ich habe eigene Gedanken; eigene Gefühle. Ich besitze einen eigenen Willen und habe Träume. Ich träume davon, frei zu sein, nicht mehr gefesselt oder gefangen zu sein. Ich träume davon, keine Marionette mehr zu sein. Doch all das ist der Welt egal. Ich flehe um Hilfe, aber keiner sieht es. Ich versuche mich zu befreien, doch ich schaffe es nicht. Ich hasse jede einzelne Sekunde, in der ich nicht tun kann, was ich will, mich nicht bewegen kann, wie ich will. Doch schlimmer als das ist es, wenn ich zerbreche. Immer und immer wieder passiert es. Immer wieder gehe ich zu Grunde, aber muss im nächsten Augenblick existieren, als wäre nie etwas gewesen. 

Ich bin ein Spiegelbild. Von manchen Personen werden wir geliebt. Von anderen gehasst. Doch wir können nichts dafür. Wir sind doch alle nichts anderes als Puppen, die an Fäden gezogen werden, um die genauen Gesten unseres Gegenübers zu imitieren. Wir sind mal stärker und mal schwächer zu sehen, aber immer da. In einem konventionellen Spiegel im Badezimmer, einer Pfütze am Straßenrand oder nur in einer Spiegelung eines Schaufensters. Doch manchmal gehen Gegenstände kaputt, in denen sich Menschen spiegeln können. Wenn das passiert, spüren wir das. Es ist, als ob wir zerbrechen. Als würden wir in Millionen von Einzelteilen zerspringen und das Klirren der Scherben ist unser letzter Schrei. Oder eben nicht.

Meistens werden wir in mehreren Objekten gespiegelt. Wird eines davon zerstört, leben wir in den anderen weiter. Doch es fühlt sich jedes Mal so an, als ob ein Teil von mir für immer weg ist. Meine Welt besteht aus Glas und meine Wohlfühlorte aus Wasser. Wasser kann man nicht zerschlagen. Im Wasser kann ich nicht zerspringen.

Manchmal wünsche ich mir, mein Gegenüber würde davon wissen; würde mehr aufpassen. Doch ich kann ihm nicht die Schuld dafür geben. Mein reelles Ich kennt meine Probleme nicht und weiß nicht, was es mir antut. Dennoch will ich Veränderung. Ich will diese unsichtbaren Fäden durchschneiden. Ich will von Pfütze zu Pfütze unabhängig von meinem materiellen Ich springen können. Ich möchte fliehen, bevor ich klirrend am Boden aufpralle. Ich möchte mich selbst retten, weil es sonst niemand tut. Ich möchte mein eigenes Leben führen, meine eigenen Handlungen ausführen. Ich möchte so viel, doch nichts wird sich verändern. Ich bin eben ein Spiegelbild.

In meinem Schicksal gefangen und niemals frei. Immer allein und niemals glücklich. Nicht dort, wo ich sein will, und nicht immer existent. Ein Lügner. Spiele jedem Emotionen vor, die ich nicht fühle. Aber vielleicht bin ich nur ein guter Schauspieler. Wer weiß das schon? Ich nicht, denn ich bin ja schließlich bedeutungslos. Ich werde von der Welt vergessen, außer man möchte mich sehen. Ich werde ignoriert und verdrängt.

Ich wünschte, es gäbe auch nur eine einzige Person, die es wissen würde. Ich wünschte, jemand würde sich für all das entschuldigen. Ich wünsche, jemand würde mir sagen, dass alles wieder gut wird. Ich wünschte, ich könnte daran glauben.


KONTAKT info.literatur@ortweinschule.at

KONTAKT
info.literatur@
ortweinschule.at

Sponsoren