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Gläserne Gedanken

In einer Stadt, die ganz aus Glas gebaut war, lebten Menschen, deren Gedanken nicht mehr verborgen blieben. Sie stiegen wie leuchtende Fäden aus ihren Köpfen empor, formten Farben und Bilder, sodass jeder sehen konnte, was im Inneren des anderen vorgeht. 

Kinder spielten in den Straßen, und über ihnen tanzten bunte Funken wie kleine Sterne. Bei manchen leuchteten sie goldgelb vor Freude, bei anderen schimmerten sie blau und ruhig, als wären sie in Gedanken in einer fernen Welt. Ein Junge hatte helle, springende Funken, die mit jedem Lachen intensiver wurden, während ein anderes Kind still dastand und dessen Gedanken sich ruhig und im Rhythmus bewegten. Ein alter Mann saß am Brunnen, und über ihm schwebte ein grauer Nebel aus längst vergessenen Erinnerungen, der manchmal aufriss und Einblicke auf seine Vergangenheit offenbarte.

Die Menschen hatten gelernt, vorsichtig miteinander umzugehen. Denn ein spitzer Satz konnte wie ein Stein sein, der gegen die gläsernen Gedanken prallte und Sprünge hinterlassen. Doch zugleich gab es keine Masken mehr, keine verborgenen Absichten. Keine Geheimnisse. Alles war sichtbar.

Eines Tages bemerkte ein Mädchen, dass ihre Gedanken anders waren. Während die anderen ihre Gefühle in Farben und Formen zeigten, erschienen bei ihr ganze Orte. Atemberaubende Orte, die niemand je zuvor gesehen hatte oder sich auch nur vorstellen konnte. Die Leute blieben stehen, staunten, fragten sich ob so die Zukunft ausschauen würde und manche fühlten sich in ihrer Gegenwart unwohl. Denn was, wenn ihre Gedanken zu stark für diese Welt waren, wenn sie die fragile Ordnung der gläsernen Stadt zum Splittern brachten?

Seitdem flüsterten die Menschen in der gläsernen Welt „Hüte deine Gedanken, denn sie sind stärker als Worte.“


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