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das antiklimax

Anna-Lena Maier

„Liebe Leserinnen und Leser, fragen Sie sich nicht: Warum ich? Fragen Sie sich lieber: Warum ich nicht?“ 

 „Ich habe aber Angst.“

 Die Stimme seines kindlichen Ichs hallte ihm noch immer in den Ohren. Es war heute, der Tag, an dem er versuchen würde, sein Leben in den Griff zu bekommen. Seit neun Jahren war er abhängig. Jeden Tag hatte er getrunken. 3287 Abende lang hatte er damit verbracht, sich ächzend in sein eigenes Bett zu schleppen. 3273 Morgen hatte er sich zitternd aus dem Bett erhoben und die Reste des Vortages ausgetrunken. Sieben Jahre lang hatte er seine Vormittage damit verbracht, sich müde und meist hungrig an den Arbeitstisch zu setzen und in den Pausen unauffällig mit einer „Wasserflasche“ auf die Toilette zu schleichen. 2104 Mittagsstunden hatte er damit verbracht, seinen Freunden und Verwandten über sein Leben zu berichten. An 1334 Nachmittagen hatte er seiner Frau versprochen, dass seine Erschöpfung und seine Unlust auf Sex nur eine Phase wären. Für 979 Stunden konnte er seinen Kindern vorspielen, dass er vollkommen bei ihnen war. An 453 Tagen konnte er sich an alles vom Vortag erinnern – diese Schmerzen ließen ihn den Rest seiner neun Jahre vergessen. Fast an genauso vielen Tagen war er zu verschiedenen Supermärkten gefahren und hatte sich legal insgesamt 729 Liter Schnaps, 3244 Liter Bier und 695 Liter anderer alkoholischer Getränke gekauft. An 23 Tagen hatte er versucht, sich einweisen zu lassen, doch aufgrund seiner stabilen Arbeitsstelle, seiner Ehe und seines vermeintlich niedrigen Konsums war er 22-mal abgelehnt worden.

Aber heute war es so weit: Er hatte keinen Beruf, keine Partnerin, keinen Wohnort, kein Sorgerecht und trank das Zwölffache dessen, was er bei seinem ersten Hilfeversuch konsumiert hatte. Er war endlich genug. In seinem Innersten freute er sich auf seine Einweisung wie ein kleines Kind auf ein Weihnachtsgeschenk – und doch hatte er Angst, dass unter dem Baum für ihn nichts liegen würde.

 Bis zum Ende seiner Zwanziger hatte er nie einen Tropfen getrunken. Warum auch? Seine kleine Welt war perfekt gewesen. Er hatte vier reizende Kinder, eine Stelle mit großartigen Aufstiegsmöglichkeiten und bald eine Hochzeit. Zur Trauung waren alle eingeladen gewesen, auch der Onkel seiner Verlobten, der einst sein Volksschullehrer gewesen war. Bis spät in die Nacht konnte er sein Glück kaum fassen. Er lachte und weinte aus purer Freude.

Um zwei Uhr war es gewesen, als er sich an die Bar stellte, um für seine Gäste eine Runde zu zahlen. Da trat der Onkel an ihn heran. „Erwachsen bist du geworden.“ Ohne ihn gesehen zu haben, erkannte er die Stimme – und brach zusammen. Mojitos verteilten sich über sein Sakko, und alle Freude wich gänzlich aus seinem Gesicht, auf einmal war er wieder acht.

In dieser Nacht veränderte sich vieles in ihm. Erinnerungen an den alten Mann schossen wie Munition in sein Gehirn. Er sah sich selbst, leise klopfend an einer Klassenzimmertür. „Warum haben Sie mich hergebeten? Bin ich wirklich besonders?“ Der Onkel saß auf einem Hocker, wie in seiner Hochzeitsnacht, komplimentierte seine Reife und versprach ihm, er müsse keine Angst mehr haben. Es sei ihr besonderes Geheimnis.

 3425 Nächte lang hatte er danach versucht, ruhig in seinem Bett zu schlafen. Doch in jeder nüchternen Sekunde hallte in ihm das Echo seiner kindlichen Stimme. „Ich habe aber Angst“


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