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Mir ist immer kalt

Amelie Misik

Mir ist immer kalt. Ich spüre es überall, als wäre mein Körper nicht mehr aus Fleisch und Blut, sondern aus etwas Zerbrechlichen. Glas. Genau so fühlt es sich an. Ich sehe die Welt, als wäre ein unsichtbarer Schleier von meinen Augen. Alles wirkt klar und durchsichtig, aber zugleich brüchig. Menschen, Häuser, Bäume, selbst der Himmel über mir besteht aus Glas. Es funkelt, es glänzt, und doch habe ich ständig Angst, dass es zerbricht. Manchmal frage ich mich, ob jemand anders auch so sieht wie ich. Aber ich sage nichts. Niemand darf es erfahren. Was, wenn sie mich auslachen oder schlimmer noch, wenn sie merken, dass auch ich aus Glas bin? Schon bei der kleinsten Berührung habe ich das Gefüh, dass Risse entstehen. Wenn jemand mich zu fest anfasst, wenn eine falsche Bewegung kommt. Könnte ich dann in tausend Stücke zerspringen? Dieser Gedanke verfolgt mich Tag und Nacht. Nach außen hin spiele ich meine Rolle. Ich lache, wenn man es von mir erwartet, und tue so, als wäre ich wie alle anderen. Doch innerlich kämpfe ich darum, die Scherben zusammenzuhalten, die sich fast lösen. Es gibt Momente, in denen ich mir wünsche, jemand würde mich wirklich sehen. Nicht nur mein Lächeln, nicht nur die Fassade, sondern die feinen Risse, die unter der Oberfläche verlaufen. Aber gleichzeitig weiß ich: Wenn jemand die Wahrheit erkennt, könnte er mich berühren. Dann wäre alles vorbei. Also bewahre ich mein Geheimnis. Nur mein Tagebuch aus Glas weiß es. Ich bleibe still, halte alles in mir und hoffe, dass niemand die Wahrheit bemerkt. 

Und während ich so durch diese gläserne Welt gehe, weiß ich: Solange ich es verberge, bleibt alles ganz. Doch tief in mir frage ich mich, wie lange das Glas noch hält, bevor es endgültig zerbricht.


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