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Bitte bleib

Mia Hartwig

Bitte bleib

Liebes Tagebuch,

gelbe Wände, Kinderlachen, Spaß und Leben – ersetzt durch kahle weiße Wände, gleichmäßiges Piepsen, Stille und Überleben. Es ist 432 Tage her, seit sich unsere ganze Welt auf den Kopf gestellt hat. 432 Tage, seitdem ich nicht mehr an die Gerechtigkeit glaube.

Sie war doch so ein aufgewecktes, hilfsbereites, fantasievolles und liebes kleines Mädchen. Wieso musste es genau meine kleine Schwester treffen? Ich würde alles geben, um ihren Platz einzunehmen. Es ist nicht gerecht, schon mit sieben Jahren sein Kinderzimmer gegen ein steriles Krankenhauszimmer und sein lieblings Rüschenkleid gegen einen Krankenhauskittel tauschen zu müssen.

Anfangs war es noch nicht so schlimm, und sie konnte auch weiterhin noch zur Schule gehen. Aber mittlerweile geht das auch nicht mehr. Mama und Papa versuchen, alles so normal wie möglich zu gestalten und ihre Angst nicht zu zeigen, aber ich sehe die Trauer in ihren Augen und höre, wie Mama nachts im Bett weint, wenn sie denkt, keiner hört sie.

Papa ist leiser als sonst, keine unlustigen Dad-Jokes und Sprüche. Sie versuchen ihr Bestes, um es leichter zu machen, doch innerlich zerreißt es uns alle.

Das Schlimmste ist zu sehen, wie sehr es Lena in so kurzer Zeit verändert hat. Früher war sie frech, spritzig und für jeden Spaß zu haben, doch diese blöde Krankheit hat sie still, schwach und müde gemacht. Früher haben wir stundenlang Friseur gespielt, und ich habe aus ihren blonden Löckchen die ausgefallensten Frisuren gezaubert. Jetzt kann sie nur noch meine Haare kämmen.

Es tut mir innerlich weh, sie so zu sehen – meine kleine Schwester in einem weißen Krankenhausbett, an Maschinen angeschlossen. Wie sie mich kraftlos anlächelt, wenn ich wie jeden Nachmittag zu Besuch komme. Wie Lena mit leiser Stimme ihr Lieblingsbuch vorliest und ihren Stofftier-Eisbären kuschelt.

Ich bereue jeden Moment, in dem ich böse auf sie war oder mit ihr wegen unnötiger Kleinigkeiten gestritten habe. Denn jetzt schätze ich jeden Moment, den ich mit ihr habe, auch wenn es nur gemeinsames Liegen im Bett ist, mit einem TKKG-Hörspiel im Hintergrund.

Warum merkt man immer erst in schlechten Zeiten, wie wertvoll das Leben, ja jeder einzelne Tag ist? Alles rundherum ist jetzt nebensächlich geworden.

Mit jedem Tag wird meine Hoffnung auf Besserung kleiner, doch so wie ich sie kenne, gibt Lena nicht auf. Gestern haben wir uns geschworen, uns nie zu verlassen. Ich halte fest daran. Ich werde immer für Lena da sein – an Tag 500, 600 oder auch 1000, wenn es sein muss. Und ich glaube ganz fest daran, dass ich eines Tages den Satz „Lena ist krebsfrei!“ hier hineinschreiben werde.

Dann spielen wir wieder gemeinsam im Zimmer mit den gelben Wänden, und ich wache zu deinem Lachen auf. Dann wird das alles hier nur eine schlechte Erinnerung in deinem schönen langen Leben sein. Gemeinsam als Familie stehen wir das durch.

Marie, 22.08.2025


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