Es war einmal, vor langer, langer Zeit in einem fremden Land ein junges Mädchen das die Welt veränderte. Kaum jemand erinnert sich noch an dieses Mädchen oder die Zeit davor. Wozu auch? Die Welt damals war so dunkel und kalt und voller Armut und Elend. Arwen erinnert sich. Sie weiß nicht, woher ihre Großmutter solche Geschichten kennt, aber sie erinnert sich und sie hat ihrer Großmutter versprochen, diese Erinnerungen in ihrem Herzen zu bewahren und nie so zu handeln wie ihre Vorfahren.
Als Arwen nachdenkt, fährt ein großer LKW vor dem Café vorbei, in dem sie sitzt. "Cyber GmbH - wir schützen ihr Zuhause" steht in geschwungener Neonschrift darauf und aus einem Lautsprecher quillt ein Werbeslogan. Plötzlich springt Arwen auf. Das ist es!, denkt sie. Flink wie ein Wiesel läuft sie aus dem Café und lässt nur ein wenig Trinkgeld und eine halb leere Tasse zurück, der Tee darin schwappt nicht einmal von der schnellen Bewegung.
„Cyber - die von Computern erzeugte virtuelle Scheinwelt betreffend“
Als Arwen ihr Ziel endlich erreicht, ist der LKW auch bereits da. Sie läuft darauf zu und schafft es gerade noch durch das Tor des Lieferanteneinganges, das hinter dem LKW zu schwingt. Der Innenhof, der sich vor ihr auftut, ist atemberaubend. Auf drei Seiten Gebäudewände und hinter ihr das Tor schließen zwar nur eine kleine Fläche ein, aber die gesamte linke Hälfte ist bepflanzt. Grüne Wiese, kleine Gänseblümchen und sogar ein Apfelbaum. Als ein Kind der großen Stadt hat Arwen noch nie so viele Pflanzen auf einmal gesehen. Aber heute ist sie nicht für die ungewöhnliche Botanik gekommen, sondern für etwas viel Wichtigeres. Während der Fahrer seinen LKW abstellt und mit dem Aufladen mehrerer großer Kisten beginnt, huscht Arwen hinter den Apfelbaum und macht sich so klein wie möglich. Wenn der Lieferant fertig ist und mit seinem LKW den Innenhof wieder verlässt, hält Arwen die Luft an, doch er sieht sie nicht. Die Sonne steht tief am Horizont und die junge Frau verlässt ihr Versteck, um durch den Lieferanteneingang auf der anderen Seite des Hofes in das Gebäude einzudringen, welches den Hof begrenzt. Da sie sich nicht umdreht, sieht sie nicht, wie sich das Tor ein weiteres Mal öffnet.
„…“
Es dauert nicht lange, bis Arwen den Raum findet, nach dem sie gesucht hatte. Der Raum selber ist nicht außergewöhnlich, nur ein weiterer menschenleerer Büroraum mit zu vielen Schreibtischen und zu wenig Lebensfreude oder Persönlichkeit. Doch in der Mitte dieses Raumes sieht sie es: das Vitrum (lat. Glas). Es sieht genauso aus wie in den Erzählungen ihrer Großmutter: Ein kleines, rundes Ding, in dem sich die schönsten Farben und Bilder von Überall und Nirgendwo spiegeln. Arwen beugt sich vor und sieht hinein und sie sieht Überall und ihr wird bewusst, dass sie im Nirgendwo ist. Also hatte Großmutter doch recht, denkt sich Arwen, Überall und Nirgendwo wurden getrennt und haben die Welt wie wir sie kennen verändert. Sie streckt ihre Hand aus und greift nach dem Vitrum. Es ist warm und pulsiert in ihrer Hand. Sie hört die Schritte nicht, denn sie verliert sich in den wunderschönen Bildern von Überall für einen Moment, bevor sie ihre Hand mit dem Vitrum hebt und loslässt. Wie in Zeitlupe fällt das Vitrum vor ihren Augen vorbei, glitzert noch einmal, leuchtet noch ein letztes Mal mit einem wunderschönen Bild von Überall auf, bevor das runde Gebilde am Boden aufschlägt und in tausend Scherben zerspringt.
Als Arwen wieder zu sich kommt, scheint das Morgenlicht zum Fenster herein. Sie liegt in einem verlassenen Büro am Boden und vor ihr ist ein kleiner Haufen Glasscherben. Ich muss bei der Party gestern Abend eingeschlafen sein, denkt sie und beachtet das zerbrochene Glas nicht weiter. Auf dem Weg aus dem Gebäude schließt sie das offenstehende Tor. Die Glasscherben glitzern in der Sonne.
„Niemand wird sich an Nirgendwo erinnern, sodass niemand die Welten je wieder trennen kann. Manche Geschichten bleiben besser verborgen in Déjà-vus und halb erinnerten Träumen.“