Ich sehe Fäden. Überall. Dünn, rot, vibrierend. Sie wachsen aus den Menschen, als wären wir alle durch unsichtbare Nabelschnüre verbunden. Wenn zwei sich lieben, leuchtet der Faden hell auf. Ich wünschte, ich könnte sagen, das sei romantisch. Ist es aber nicht. Es ist, als hätte mein Gehirn beschlossen, das Liebesleben aller als offene Tabs anzuzeigen und ich kann sie nicht schließen. Kein „x“. Nur Benachrichtigungen über Gefühle, die nie mir gehören. Am Anfang fand ich das sogar witzig. In der Schule, am Valentinstag, war’s wie eine Live Übertragung. Überall Blumen, Schokolade, kitschige Karten und ich konnte genau sehen, wer wen wirklich mochte und wer nur so tat. Ich war wie ein Liebesalgorithmus in Menschengestalt: Myke steht auf Ben. Ben steht auf Lea. Lea steht auf Brad Pitt. Damals dachte ich, das wäre ein Vorteil. Ich hatte den Durchblick, wortwörtlich. Alle stolperten blind durch ihre Romanzen, und ich stand daneben und wusste, wie’s ausgeht. Ich fand das cool, wie jemand, der den Film schon kennt, während alle anderen noch Popcorn holen. Aber irgendwann hab ich gemerkt: Das ist kein Film. Das ist Dauerschleife. Und ich bin der Einzige ohne Rolle. Ich war oft auf Dates. Ich wusste, wann man lacht, wann man zuhört, wann man so tut, als wäre man interessiert. Ich konnte das gut. Aber jedes Mal, wenn sie lächelte oder mich ansah, sah ich schon, wie der Faden weiterlief nie zu mir. Immer irgendwohin. Manchmal glühte er schwach, manchmal hell, aber immer fort. Irgendwann hab ich aufgehört zu versuchen. Kein Lächeln mehr, keine Sprüche. Nur dieses Gefühl, als würde ich durch ein Meer aus Scherben schwimmen. Alles glitzert, alles schön und doch schneidet jeder Atemzug. Die Welt ist durchsichtig, ja, aber nicht klar. Sie ist scharf. Die Menschen, die ich liebe, sind wie Scheiben aus Glas: Ich sehe sie, aber komme nicht hindurch. Heute Nacht stehe ich auf einem Dach. Hoch genug, dass man die ganze Stadt sieht. Unten funkelt sie, als hätte jemand tausend Splitter über den Asphalt gestreut. Jeder Lichtpunkt ein Paar, das sich irgendwo findet. Ich gehe. Ein Schritt. Noch einer. Jeder klingt, als würde etwas in mir reißen. Ich zähle sie, leise, wie früher im Matheunterricht, wenn ich die Minuten bis zur Pause runterzählte. Nur dass hier keine Pause mehr kommt. Ich denke an all die Fäden, die ich gesehen habe ein Wirrwarr aus Liebe und Schmerz. Und an mich, den einen Punkt, von dem keiner ausgeht. Vielleicht, denke ich, gab’s mal einen Faden, der zu mir gehörte. So dünn, dass ich ihn übersehen hab. An der Kante angekommen, stelle ich mir vor, wie es ist zu fallen endlich keine Fäden mehr, keine Tabs. Nur Stille. Aber dann denke ich: Wenn schon, dann nicht leise. Nicht mit Stille. Wenn ich gehe, dann mit „Freebird“ im Kopf, so laut, dass selbst der Himmel mithört. Ich hebe den Fuß, da spüre ich plötzlich etwas. Etwas Leichtes auf meiner Schulter. Ein Vogel. Sein Gefieder schimmert blaugrün, als hätte jemand Licht über ihn gegossen. An seiner Brust ein roter Streifen, so leuchtend wie die Fäden, die ich überall sehe. Hat der meine Gedanken gelesen, das kann doch nur ein schlechter Scherz sein. Ich starre ihn an. So einen Vogel hab ich noch nie gesehen. Einen Moment denke ich, ich sollte einfach springen er kann ja fliegen. Ich nicht. Aber ich tue es nicht. Irgendwas in mir, das längst taub war, rührt sich. Der Vogel bleibt. Ruhig. Fast trotzig. Ich atme. Zum ersten Mal seit Wochen richtig. Langsam drehe ich mich um. Schritt für Schritt, weg von der Kante. Der Vogel bleibt auf meiner Schulter, als hätte er beschlossen, mich heimzubegleiten. Ich gehe durch die Straßen. Überall Fäden, aber diesmal sehe ich sie anders. Vielleicht, denke ich, braucht man keinen Faden, um verbunden zu sein. Vielleicht reicht ein Atemzug. Ein warmes Gewicht auf der Schulter. Der Himmel färbt sich orange, und das Blau des Vogels leuchtet, als hätte ein Stück Himmel beschlossen, bei mir zu bleiben, anstelle eines roten Fadens.