Es begann mit einer Idee: absolute Transparenz. Keine Lügen mehr, keine Geheimnisse, keine Täuschung. Die Regierungen nannten es „Projekt Klarheit“. Jeder Mensch erhielt ein Implantat – ein winziges Glasstück hinter dem Auge, das alles, was er sah, fühlte und dachte, in Echtzeit übertrug. Kein Verbrechen blieb unentdeckt, kein Gedanke verborgen. Anfangs war die Euphorie groß. Die Straßen waren sicher, die Politik ehrlich, Beziehungen ehrlich wie nie zuvor. Man sah einander – wirklich. Doch mit der Zeit begann das Glas zu splittern, nicht äußerlich, sondern im Inneren der Menschen. Leonie, eine Archivarin im „Ministerium für Wahrhaftigkeit“, war zuständig für das Sortieren menschlicher Gedankenströme. Milliarden Bilder, Worte, Erinnerungen rauschten täglich durch ihre Monitore. Sie sah, was niemand sehen sollte: den Schmerz, den Hass, die Sehnsucht der Menschen, die in der gläsernen Welt keine Zuflucht mehr fanden. Eines Nachts entdeckte sie etwas Unmögliches. Eine Lücke. Sekundenlange Aussetzer im Bewusstseinsstrom eines Unbekannten. Kein Signal, kein Licht, nur Dunkelheit. Jemand war unsichtbar – ein Verbrechen gegen das System. Sie suchte den Ursprung und fand ihn in den alten Industriegebieten am Stadtrand. Dort traf sie ihn: einen Mann mit leeren Augen, ohne Glasreflexion. „Ich habe mich gelöscht“, sagte er. „Nicht aus Angst, sondern aus Hunger nach Stille.“ Er zeigte ihr, wie. Ein Splitter, aus Rauch statt Glas, ein Rest aus der Zeit vor der Klarheit. Man konnte ihn einsetzen und verschwinden – nicht körperlich, aber geistig. Gedanken wurden wieder privat, Träume wieder still. Leonie zögerte. Sie dachte an die Gesichter, die sie täglich sah, an die unzähligen Seelen, gefangen im Licht. Sie setzte den Splitter ein. Zuerst kam Dunkelheit. Dann Stille. Kein Beobachter, keine Spiegelung, kein Echo ihrer Gedanken. Nur sie selbst. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie etwas, das die gläserne Welt nicht kannte: Freiheit. Am nächsten Morgen suchten sie nach ihr. Doch die Kameras sahen nichts. Die Sensoren registrierten nur ein Rauschen. In den Archiven verschwand eine Identität, eine Nummer, ein Mensch. Und irgendwo, jenseits der Lichtmauer, begann ein neues Flüstern. Menschen, die sich löschten. Schatten in der Welt aus Glas. Das System reagierte mit Angst. Die Transparenz flackerte, die Perfektion bekam Risse. Und in jedem Riss spiegelte sich die Wahrheit: Je klarer die Welt, desto dunkler der Mensch.