Hinter einem Schleier aus Nebel existiert die Gläserne Welt, ein Reich, das nie von der Sonne berührt wird. Die Landschaft ist aus kaltem Kristall geformt: zerklüftete Glasberge, Spiegelmeere ohne Grund und Wälder aus splitternden Stämmen, deren Kronen im Wind ein unheilvolles Klirren erzeugen.
Die Glasmenschen wandeln lautlos durch dieses Reich. Ihre Körper sind durchsichtig, doch in der Dunkelheit glimmt in ihnen ein schwaches, gespenstisches Licht. Wer sie ansieht, erkennt in ihrem Inneren nicht Gefühle, sondern die Risse ihrer zerbrochenen Seelen. Manche tragen feine Sprünge, andere klaffen beinahe auseinander, nur noch durch hauchdünne Fäden zusammengehalten.
Kein Laut der Freude hallt in dieser Welt, nur das Echo von Scherben. Denn jeder Glasmensch weiß: Ein falscher Schritt, ein einziger Schlag, und er zerfällt zu Staub. Darum leben sie in ständiger Furcht, meiden Nähe, meiden Berührung. Liebe ist für sie ein tödliches Risiko.
Es heißt, im Herzen der Welt stehe ein schwarzer Turm aus Glas. Dort wacht die Splitterkönigin, ein uraltes Wesen, dessen Körper vollkommen zersprungen ist. Sie hält die Risse ihrer Untertanen in Schach, doch verlangt dafür Gehorsam und Opfer. Jeder, der sich gegen sie erhebt, wird zerschlagen, seine Fragmente verstreut in den endlosen Glaswüsten.
Manchmal jedoch bricht ein Splitter aus dieser Welt in unsere. Wer ihn aufhebt, hört in stillen Nächten ein fernes Flüstern – die Stimmen der Glasmenschen, die nach Freiheit schreien. Doch wehe dem, der dem Ruf folgt: Denn der Weg in die Gläserne Welt ist eine Einbahnstraße. Und wer einmal dort verweilt, wird selbst zum Wesen aus zerbrechendem Glas, gefangen in einer Ewigkeit aus Schönheit und Schmerz.