NYC, 1932 – Arbeiter klettern schon im frühen Morgengrauen in schwindelerregender Höhe über der 41st Street. Ganz ohne Sicherheitsgurte oder anderlei Ramsch setzen sie die Scheiben für das nigelnagelneue Rockefeller Center ein, von dem sich der Ölbaron erhofft, die anderen Wolken-kratzer New Yorks in den Schatten zu stellen.
Charles C. Ebbets, ein Fotograf auf der Baustelle, dokumentiert eifrig den Fortschritt am neuen Gebäude. Seine Bilder dienen eigentlich der Bauüberwachung, werden aber auch oft von der Marketing-Abteilung für Werbezwecke missbraucht. Besonders sensationelle Aufnahmen werden daher mit einer Prämie von $25 belohnt – mehr als Charles in zwei Wochen verdient!
Allerdings plagt ihn eine gewisse Beklommenheit. Er blickt um sich, auf dem Stahlgerüst der neunund¬sechzigsten Etage. Er ist hoch oben. Es geht weit runter. Die letzten paar Stockwerke hat Charles nur mit Leitern aus Holz erreicht. Der Fotograf holt schaudernd Luft.
Um ihn herum sind die Stahlbauer guter Dinge. Ein Mohawk-Indianer stimmt gerade ein Lied an, während er gelassen von einer Planke aus einen Bolzen fixiert. Charles hört, wie ihn einer ruft: „Skywalker!“
Der Fotograf dreht sich um und entdeckt einen gedrungenen Mann mit roten Haaren, Hut und Mantel; sein Blick ist auf den Indianer fokussiert. „Komm, die anderen warten schon!“ Er deutet mit seinen Händen zu zwei anderen Gesellen, die auf einem Stahlträger sitzen, wendet sich aber schließlich von ihm ab, um sich dazuzusetzen.
Wieso sind die Leute hier oben bloß so gelassen? Charles steuert vorsichtig auf den Indianer zu, ohne dabei nach unten zu schauen. „Skywalker?“ Der stämmige Kerl dreht sich mit ge¬runzelter Stirn um, starrt ihn augenblicklich an und antwortet: „So nennen mich eigentlich nur meine Kumpels.“ Er zieht den Bolzen ein letztes Mal fest, ehe er sich erhebt und zu Charles springt, dessen Beine auf einmal ganz wackelig geworden sind.
Skywalker fixiert Charles mit seinem Blick. Er knurrt. „Komm mit. Ein leerer Magen ist ein schlechter Ratgeber.“ Daraufhin stapft er los, in Richtung seiner Mitarbeiter.
Der Fotograf sammelt sich und versucht Skywalker auf dem Stahlgerüst zu folgen, aber sein zitterndes Bein versagt und Charles verliert das Gleichgewicht. Noch bevor der Fotograf begreift, was passiert, packt ihn ein eiserner Griff am Handgelenk und hievt ihn wieder auf das Gerüst. „Soll ich dich etwa tragen, Bürschchen?“, spottet der Indianer mürrisch.
⋯
Charles‘ Herz pocht immer noch ununterbrochen, während er seinen prekären Sitzplatz auf dem Stahlträger mit den anderen teilt. Skywalker – oder Káteri, wie der Fotograf soeben gelernt hat –redet gerade mit Seamus, einem Immigranten aus Belfast. „Ich sag’s dir, wir sind hier an was Großem beteiligt. Wir bauen etwas für die Ewigkeit! In ein paar hundert Jahren werden die Leute immer noch staunen!“ „Pah, und wenn schon. Leute haben weder Zeit noch Geld, sich diese Protzbauten anzuschauen.“
Eine Stimme mit deutschem Akzent mischt sich in das Gespräch ein. „O doch, Káteri, das wird sich schon noch zeigen. Die Welt verändert sich. In meinem Heimatland zum Beispiel. Meine Verwandten schreiben mir von einem starken Mann, der vorhat, Deutschland wieder auf Vorder-mann zu bringen.“ Er nickt dem Mohawk-Indianer zuversichtlich zu. „In den Vereinigten Staaten wird Roosevelt dieser Mann sein.“
Kaum hat der Deutsche aufgehört zu reden, fängt ein nächster an. „Ach, mach dir nichts vor, die Regierung beutet uns doch nur aus!“ Er hebt seinen Armstumpf. „Vier Jahre lang hab‘ ich für das Vaterland gekämpft, vier Jahre! Und wie wird mir gedankt? Damit, dass meine Frau und ich in den Suppenlinien Schlange stehen und in Hooverville hausen?“
Während die Gespräche weitergehen, greift Charles zur Kamera. Er will, dass sich die Leute an jene erinnern, die er heute kennengelernt hat. Furchtlos steigt er vom Stahlträger wieder auf das Gerüst: „Auf dass wir aus den Scherben unserer Welt eine bessere Zukunft erschaffen.“
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