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Es war einmal

Ausstellung: 16.9. – 16.11.2025 | Galerie Flughafen Graz

… eine ganz besonders aufgeweckte und interessierte Klasse der Fachsparte Grafik- und Kommunikationsdesign der HTBLVA Ortweinschule, die sich im Schuljahr 2024/25 auf eine märchenhafte Reise zum eigenen Selbst begab. Am Anfang dieser Auseinandersetzung stand ein mehrteiliger Workshop mit dem Märchenerzähler Frederik Mellak, der die etwa 18-jährigen Schüler:innen nicht nur mit seinen rhetorischen, sondern auch seinen musikalischen Fähigkeiten und einem unerschöpflichen Requisitenfundus in magische Welten entführte. Danach sollten sie selbst schriftstellerisch tätig werden und ihre eigenen Geschichten erfinden – mit der Besonderheit, dass sie selbst als Protagonist:innen darin auftreten.

Parallel zu den Märchen-Workshops fanden im Fach „Darstellung und Komposition“ Übungen zum Portrait- und Selbstportrait-Zeichnen in den Techniken Weißhöhung und Pastellmalerei statt. Diese bildeten gemeinsam mit den selbst verfassten Erzählungen die Basis für Kompositionsüberlegungen zu großformatigen „Selbstportraits im Märchen“, in welchen die Schüler:innen sich nun, wiederum in der Technik Pastell, jeweils als Protagonist:in ihrer eigenen fantastischen Geschichte in Szene setzen.

Die Ausstellung in der Galerie des Flughafen Graz wird am 16. September 2025 eröffnet und kann bis zum 16. November 2025 besichtigt werden.

Nachlese

Das Mädchen, das kackte

Es war einmal ein Mädchen, das ging durch den Wald spazieren. Überall wuchsen Beeren, und überall war es grün, und satt, und holzig. Der Himmel schien hellweiß, hinab auf ihren Kopf. Sie tanzte über eine Lichtung, klischeehaft, und stellte sich vor, ein lieber Bursche würde sie sehen, und sich in sie verlieben. Kein Prinz, nein, das Mädchen dachte an einen romantischen Stallburschen oder an einen Reisenden. Und wie sie tanzte, so fühlte sie sich hübsch, unter all den Blumen, unter all den trockenen Gräsern. Sie tapste hüpfend an einem Vogel vorbei, der im Gras versteckt war, und dieser hechtete davon, scheuchte ein paar Wanzen auf, und eine landete brummend auf ihrem Gesicht. Das Mädchen erschrak, und wischte sich mit den Händen wild über die Nase. Aus Versehen fuhr sie sich mit dem Fingernagel ins Auge, da schrie sie nur noch mehr. Sie taumelte wild blinzelnd am Weg weiter, jetzt wäre kein Bursche mehr von ihr begeistert. Sie fühlte sich hässlich unter all den Blumen, lächerlich. Und als sei das nicht genug, verspürte sie plötzlich den Drang zu kacken. Und alle Schönheit der Natur, jedes Geräusch und jede sanfte Wärme auf der Haut – alles schwand und versank hinter diesem Drang. Noch nie war dem Mädchen so etwas im Wald passiert, oder an einem anderen abgelegenen Ort. War sie heute noch nicht am Klo gewesen? Hatte sie so viel gegessen? Sie konnte an nichts anderes mehr denken, sie musste ganz dringend kacken, ganz dringend. Und so lief sie los, über die Lichtung in den Wald hinein. Stob feuchte Blätterschichten in den Schatten der Bäume, in das schmale Licht der Zweige. Doch dadurch wuchs der Wunsch, wuchs das Verlangen anzuhalten, die Hose hinunterzuziehen, sich hinzuhocken und loszulassen. Die Kacke fallen zu lassen, auf das Laub, auf die Pilze. Aber der Gedanke daran, dass sich kein Klopapier in der Nähe befand, hielt sie davon ab. Was, wenn die Kacke feucht war? Manchmal war sie so trocken, dass sie sich nicht einmal auszuwischen brauchte. Doch hin und wieder presste sich auch eine feuchte Wurst hinaus, und die schmierte sich wie Butter auf ihren Hintern. Das wollte das Mädchen nicht. Sie lief und lief, lief über eine kleine Holzbrücke, rannte über Wurzelgeflechte, und vermooste Baumstämme, eine Erdwand hinauf, durch kratziges Gebüsch hinaus auf eine andere Lichtung. Eine Lichtung, die sie nicht kannte. Wo war der Weg heim? Verdammt, sie wusste nicht wohin. Sie drehte sich keuchend verzweifelt im Kreis. Da sah sie am Fuße eines Hügels einen niederen Steinturm, schief, und mit spitzem Dach. Oben sah sie ein kleines Fenster, durch das schien das Gebälk. Unten war die Tür. Das Mädchen lief eilig über die Wiese, scheuchte einen Heuschreckenschwarm auf, der Turm kam näher und näher. Dann lief sie durch die Tür, da war ein kleiner Raum. Sie schaute sich um, Rohre liefen die Wand hinab, das Badezimmer musste oben sein. Eine Leiter führte ins Obergeschoss. Schnell sprang das Mädchen hinauf, Sprosse für Sprosse. Ein Frosch saß oben am Boden, sie stieg aus Versehen auf ihn, und er platzte. Verzweifelt und aus Mitleid mit dem Tier, vergaß sie kurz den Drang und ließ los. Kaum fiel das erste Material in ihre Hose, spannte sie schnell an und hielt den Sturm auf. Nein, wie konnte das passieren? Sie war jetzt in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt, sie wollte die Kacke nicht zerdrücken, um sie nicht unnötig zu verschmieren. Vorsichtig drehte sie sich im Kreis, der Holzboden knarrte. Da, im Eck, da war die Kloschüssel! Erleichtert schob sie sich näher, drehte sich um, und zog die Hose hinunter. Die erste Wurst plumpste hinunter, eine Wasserfontäne schoss in die Höhe, und Tropfen pflatschten zwischen ihren Füßen auf den Boden. Dann setzte sie sich, zog die Hose bis zu den Schuhen hinab und ließ ihre Lüste laufen. Als sie den ersten Ansturm hinter sich gebracht hatte, beugte sie sich hinunter, um zu sehen, ob Kacke in der Unterhose hängengeblieben war. Oh nein! Der Stoff war ganz braun beschmiert. Das Mädchen verfluchte alles und sich selbst. Sie schaute durch den Raum. Dort in der Steinwand, da war das Fenster, das sie vorher von außen gesehen hatte. Über ihr spannte sich das Gebälk durch eine konusförmige Höhle, den Dachstuhl, auf dem die Dachziegel ruhten. Ein Vogelnest über einem kleinen schmucken Tisch, der angekackt war, von oben bis unten. Vor Erleichterung vergaß sie ihren Ärger, und entspannte sich. Sie stützte sich auf ihre Oberschenkel, und legte den Kopf in die Hände. Hörte den zwitschernden Vögeln zu. Hörte dem Plumpsen im Wasser des Klos zu, wenn sich eine neue Wurst gelöst hatte. Genoss die kühle Luft im Inneren des Turms. Jedes Mal, wenn ein kalter Tropfen aus der Kloschüssel ihren Hintern traf, schrak sie kurz auf, und es war ihr unangenehm. Nach und nach ließ die Kacke nach. Die Würste wurden kürzer und kürzer, und leider auch feuchter und feuchter. Die Letzte presste das Mädchen heraus, und hatte das Gefühl, es wüchse nasser warmer Schlamm aus ihr hinaus. Die Hälfte blieb hängen, und da suchten die Augen des Mädchens nach Klopapier. Sie schaute und schaute, doch keines war zu sehen. Sie schaute unter der Kloschüssel, sie schaute durch den Raum. Nichts. Vielleicht ein Stoff? Etwas anderes, das sie zum Auswischen nutzen könnte? Plötzlich hörte sie durch das Fenster jemanden pfeifen, wie ein Vogel, nur trällernder und melodiöser. An ihre nasse Kacke gekettet sprang sie auf, und hüpfte zum Fenster, um hinunterzusehen. Was war da? Sie schaute nach links, kniff die Augen zusammen. Da bewegte sich etwas durchs Gras. Ein Mensch? Ein Bursche, er kam in ihre Richtung. Nein. Und hübsch war er auch noch. So oft war sie schon durch den Wald spaziert, und nur alten seltsamen Damen mit ihren kleinen Hunden begegnet. So oft hatte sie davon geträumt, einen hübschen Burschen zu treffen, und sich hundert Arten vorgestellt, wie sie ihn ansprechen könnte. Nie war einer aufgetaucht. Und jetzt, in diesem Zustand muss sie einen sehen? Jetzt, wo nichts romantisch war? Nichts an der ganzen Sache? Der junge Mann streifte durch eine Ansammlung von grellen Mohnblumen, seine Fingerspitzen umgriffen die Blüten im Flug. Das Mädchen stand oben am Fenster, und schaute hinunter, bereit sich zu ducken, doch da sah er ihr plötzlich in die Augen. Schöne Augen hatte er, ungewohnt schön. „Hey“, rief er. „Ist es schön da drinnen?“ Das Mädchen vergewisserte sich, dass er die hinuntergezogene Hose von unten nicht sehen konnte. „Nein, ganz grauslich“, rief sie ihm zu. „Gefährlich!“ Er schaute sie besorgt an: „Brauchst du dann vielleicht Hilfe?“ Sie wehrte vehement ab. „Nein, nein, ich beobachte nur das schöne Licht von da oben. „Heut ist es wirklich schön!“, der Bursche zog sich den Rucksack vom Rücken und kniete sich hin, um ihn zu öffnen. Er schien schwer zu sein. „Ich hab Wassermelonen angepflanzt, mein Opa hat ein bisschen weiter drüben ein kleines Feld. Schau, ich hab eine mit.“ Während er das sagte, zog er tatsächlich eine saftige, dicke grüne Wassermelone aus seiner Tasche. „Weil’s heuer so warm war, sind sie riesig geworden!“ Das Mädchen schaute erstaunt hinunter. „Falls du willst, können wir sie jetzt gemeinsam essen, sie ist eh zu schwer zum Heimschleppen“, meinte der Bursche, und deutete dabei einladend auf die Frucht. „Oder hast du was anderes vor“, fügte er schnell fragend hinzu. Das Mädchen verfluchte noch einmal sich und die Welt und alles andere. „Wart, ich überleg es mir“, sagte sie ihm, drehte sich um, und suchte verzweifelt nach etwas, mit dem sie sich auswischen könnte. „Ich komm gleich“, rief sie, und lief zum Klo. Sie zog sich eilig die Unterhose aus, und begann sich damit die Kacke vom Hintern zu reiben. Zuerst sammelte sie einen ganzen Batzen auf, fast wie mit einem Löffel. Dann war nicht mehr möglich. Sie warf die Unterhose in die Kloschüssel, und stöberte weiter. Nichts, kein einziges Papier, kein Karton, kein Stoff. Ihr Blick fiel auf den toten Frosch. Nein, bevor sie so etwas tat, ging sie eher angekackt wieder hinaus. „Soll ich dir runterhelfen?“, schallte es durch das Fenster. Verzweifelt kreischte sie zurück: „Nein, ich brauch nur ein bissl!“ Sie lief zum Tisch, und versuchte sich am Tischbein zu reiben. Dieses wurde voll mit Kacke, bald schon unbrauchbar und geruchsintensiv. Sie nutzte auch die nächsten zwei, dafür musste sie den Tisch zuerst von der Wand wegstellen. Das letzte Tischbein war von den Vögeln schon angekackt worden. Sie fuhr noch einmal über die Tischkante. Immer noch spürte sie Material, das an ihr klebte. Da rief der Bursche etwas durchs Fenster. „Bitte?“, rief das Mädchen, und tapste zurück, um ihn zu sehen. „Ich hab auch eine Picknickdecke!“, wiederholte er „Wir können uns auf die Wiese setzen, ohne dass wir Angst vor Zecken haben müssen!“, meinte er mit strahlender Miene. „Wie heißt du eigentlich?“, war seine nächste Frage. „Sag ich dir gleich“, rief das Mädchen. Da hatte sie eine Idee, und schämte sich im selben Augenblick dafür. „Darf ich die Picknickdecke sehen? Ich bin allergisch gegen einen gewissen Stoff, und ich muss wissen, ob es dieser ist“, sagte sie ihm. Er kniete sich wieder hin, kramte in seinem Rucksack, und zog einen violette Stofffetzten herauf. „Ich hab darauf ein Foto meiner Katze drucken lassen, nur damit es dich nicht verwirrt“, rief er. „Müsste Baumwolle sein, wenn’s mich nicht täuscht“, fuhr er fort, während er die Decke auffaltete. Sie achtetet auf das Muster der Decke. Zuerst konnte sie nur Flecken erkennen. Dann sah sie ein Katzenohr, und ein Auge. „Gib sie mir rauf, dann kann ich fühlen, ob es der Stoff ist“, sagte das Mädchen. Der Bursche war verwirrt, kam dann jedoch näher, streckte sich, und hielt ihr den Stoff entgegen. Sie beugte sich über das Fensterbrett, ganz tief, und griff den Stoff gerade noch. „Warum kommst du nicht runter?“, fragte er. „Dann können wir in Ruhe reden“ Sie antwortete nicht, sondern zog die Decke mit sich zum Klo. Ohne es zu wollen, roch sie an der Decke. Sie roch wunderbar. Dieser Geruch, das Mädchen war bereits verliebt in ihn. „Ich komm gleich“, rief sie. Da zog sie die Decke durch ihre Gesäßfalte, sorgsam darauf bedacht, nicht gleich die ganze zu verbrauchen. Der Stoff verursachte beim Wischen ein angenehmes Gefühl, fast wie Bett. Sie wischte und wischte, und die die Decke bekam braune Flecken, die zu braunen Streifen wurden. Und sie wischte immer nur mit einem frischen Stück Stoff. Nach zehnmal Wischen, war da immer noch Bräune. Am Schluss nur mehr ganz leicht. Dann war es vorbei. Endlich. Sie suchte nach einer Versteckmöglichkeit für die Decke, und entschied sich, diese auf den Tisch zu legen, mit der sauberen Seite nach außen. Sie zog sich die Hose hinauf, und lief zum Klo, um die Spülung zu betätigen. Sie drückte, doch nichts geschah. Die Unterhose und der Kackhaufen blieben in der Schüssel, und in diesem Moment war es dem Mädchen auch ganz gleich. Sie verschloss das Hosentürchen, lief über das Holz zur Leiter, warf einen letzten Blick auf den toten Frosch, und stieg hinab in den unteren Raum. Vor der Tür wartete schon der Bursche. Das Mädchen hoffte, der Gestank würde nicht bis nach unten dringen.
(Yannis Pagger)

Das zersplitterte Schloss

Hoch oben im Norden, weit entfernt von jeglicher Zivilisation, wo die Wälder dicht und unpassierbar wurden, erhob sich ein Schloss umgeben von einem ewigen Nebel. Es war kein gewöhnliches Schloss: Seine Mauern atmeten, die Türen wisperten und in den Gängen lauerten dunkle Schatten, die sich wie eigenständige Wesen bewegten. Niemand wusste, wer es erbaut hatte und warum es dort stand. Die Wenigen, die sich näher heranwagten, wurden von einem angsteinflößenden, beklemmenden Gefühl heimgesucht und schworen später, dass es sich bei dem Schloss um eine verlorene Seele handelte. Die Alten im weit entfernten Dorf sprachen von ihm als Ort, an dem die verlorenen Teile einer Seele lebten, die auf Rache aus waren und so wagte sich niemand in seine Nähe.

Bis eines Tages eine Fremde kam, eine junge Frau mit blassem Gesicht und es war, als läge eine schwere Last auf ihren Schultern. Sie sprach mit niemandem und hüllte sich in Schweigen, sodass keiner ihren Namen kannte. Doch was sie begleitete, war eine Art unsichtbarer Schatten- die Erinnerung und einen Schrecken, der sie nicht losließ. Die Fremde schlief nicht und krümmte sich immer wieder vor Schmerz, der sich wie gläserne Splitter in ihr Herz bohrte und ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie wanderte rastlos umher und so führte sie ihre Wanderung eines Tages zum Schloss. Es schien, als hätte sie das Schloss zu sich gerufen, und als sie sich vor seine Pforte stellte, öffneten sich die gewaltigen Türen und Stimmen flüsterten: „Du bist eine von uns.“ Kaum hatte sie das Schloss betreten, fühlte sie, wie sich die Welt um sie herum zu verzerren anfing. Die Flure wirkten endlos und waren verwinkelt und verzweigt wie ein Labyrinth. Es gab Räume voller Spiegel, die sich ständig veränderten. Der Ort schien keinen Anfang und kein Ende zu haben und doch fühlte sie sich kein bisschen bedroht, es fühlte sich gar seltsam vertraut an, als wäre sie endlich angekommen.

Plötzlich erklang ein leises Weinen aus einem Raum und die Fremde öffnete neugierig die schwere Tür. Sie fand sich in einem Zimmer wieder, dessen Wände mit zerbrochenen Spiegeln bedeckt waren und in dessen Mitte ein kleines Mädchen saß, blass und vernarbt, in einem zerfetzten Kleid. Seine Hände klammerten sich verzweifelt an eine zerbrochene Puppe und es sprach kein Wort, sondern starrte nur mit aufgerissenen Augen in die Leere. Über seinem Kopf schwebte ein alter schwarzer Schlüssel, der von einem schwarzen Rauchfaden umschlungen wurde. „Das ist die Hüterin des Schmerzes“, flüsterte eine Stimme hinter der Frau. „Sie bewahrt, was niemand sonst tragen kann. Wenn sie fällt, zerbricht alles.“ Die Frau wollte das Kind trösten, doch als sie nähertrat, schreckte es zurück und schrie, als wäre jegliche Berührung ein unaussprechlicher Schrecken. Im nächsten Raum begegnete sie einem großen formlosen Schatten mit rotglühenden Augen, der mit seinen Klauen bei jeder Bewegung durch die Luft zu schneiden schien. „Das ist der Wächter, er ist geschaffen, um uns vor allem zu schützen, doch manchmal schützt er uns zu viel, auch vor uns selbst.“, sagten die Stimmen und die Frau spürte, dass hinter der Tür, die der Wächter bewachte, etwas sehr Wichtiges schlummerte. Doch sie wagte es nicht, näher an den Wächter heranzutreten. Sein Blick schien in ihre Seele einzudringen und all den Schmerz zu verstärken. Auf ihrer Reise durch das Schloss traf sie noch auf weitere Wesen, die einen schienen freundlich und wieder andere versteckten sich. Eine Gruppe trug schimmernde Masken, und sie sagten: „Wir sind die Maskenträger, unsere Aufgabe ist es, unsichtbar zu sein und nicht aufzufallen. Jedes Gesicht dient dem Zweck nicht aufzufallen, damit niemand weiß, wer wir sind.“ Die Fremde spürte, dass die Maskenträger mehr über sie wissen zu schienen, als sie es selbst wusste, doch sie wagte es nicht, eine ihrer Masken abzunehmen. Es fühlte sich an, als ob unter jeder Maske eine unerträgliche, schreckliche Wahrheit lag. Je länger sie durch das Schloss wanderte, desto klarer wurde ihr, dass die Wesen im Schloss Teil eines großen Ganzen waren- Fragmente einer Seele, die sich einst aufgespalten hatte, um zu überleben und die jedem Wesen eine spezifische Rolle zugeteilt hatten, die das Schloss vor dem Zerfall bewahrte. Eines war sicher: Im Zentrum lag das Herz, der Ort, wo alles seinen Ursprung hatte, dort wo der erste Bruch entstand. Eine letzte Treppe führte sie hinab in die Tiefe, vorbei am Wächter und hinein in dichtere Schatten, die sich wie Klingen in ihre Haut bohrten. Doch sie ging weiter und landete vor einer Tür, die aus einem gigantischen Spiegel bestand und die Stimmen flüsterten: „Das ist das Herz, es ist das wahre Ich dieses Schlosses.“ Als die Frau in den Spiegel sah, erschrak sie. Sie sah eine Gestalt, die so aussah wie sie selbst, aber auch irgendwie vollkommen anders. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzerrt und sie umgab eine Wolke voller Angst und Wut, aber auch Trauer und Sehnsucht. Wie aus Reflex legte die Fremde ihre Hand auf den Spiegel und als sie ihn berührte, zerbarst dieser in tausende Fragmente, die in alle Richtungen schossen und es war, als wäre sie mitten in einen Sturm gekommen, der jede Wahrheit und jede Lüge enthüllte. Nun verstand sie: Das Schloss war nicht nur ein Ort, es war ein Teil von ihr, jedes Wesen gehörte zu ihr und es waren Splitter ihrer Seele, die sie versteckt hatte, um dem unerträglichen Schmerz zu entkommen. „Kann ich die Teile wieder zu einem Ganzen machen?“, fragte sie und die Stimme klang nun wie ihre eigene, als diese antwortete: „Ja, aber nur, wenn du bereit bist, alles zu sehen, jeden Teil von dir, und wenn du dich selbst annehmen kannst. Es war keine einfache Aufgabe, denn jedes Fragment trug etwas vor dem sie sich fürchtete, doch sie begann nach und nach die Scherben aufzuheben. Jede Scherbe war eine Erinnerung, ein Gefühl, ein Teil ihrer selbst, den sie lange verdrängt hatte. Doch als sie schließlich mehr Schmerz ausgehalten hatte, als sie ertragen konnte, war sie fertig. Der Spiegel war wieder zusammengesetzt, aber das Schloss hatte sich verändert. Seine Flure waren nicht mehr verwinkelt und sogar die Schatten wirkten nicht mehr so bedrohlich. Die Bewohner des Schlosses, die Maskenträger, der Wächter und das weinende Mädchen – sie alle standen nun Seite an Seite und waren nicht länger voneinander getrennt.

Aber die Risse im Spiegel blieben weiterhin sichtbar, die Narben der Vergangenheit waren noch da, doch die Dunkelheit hatte ihren Schrecken verloren. „Wir sind nicht perfekt“, wisperten die Stimmen. Doch wir sind wieder ein Ganzes.“ So verließ die Frau das Schloss mit einer neuen Erkenntnis:

Der wahre Horror war nie die Dunkelheit gewesen- es war die Flucht davor. Indem sie sich dem stellte, hatte sie schließlich einen Weg gefunden mit dem Schmerz zu leben.

(Celina Baumann)

Der junge Eselshirte

Es war einmal ein junger Eselshirte, er war 16 Jahre alt und lebte in einem kleinen Dorf auf der französischen Insel Korsika. Der Ort, in dem er lebte, lag nahe dem hohen Gebirge, wo alte Bäume wuchsen und schroffe Felsen in die Höhe ragten. Dieses kleine ruhige Dorf in Korsika war bekannt für die Eselszucht. Die feine Eselshaarwolle, die besonders viel Wärme und Glück bringen sollte, wurde überall hin in die Welt verschifft. Nach China, Spanien, Amerika, in den hohen Norden, aber auch ins Zentrum Europas. Alle Familien, die in diesem kleinen Dorf lebten, hatten Unmengen an Geld, da sie aber an einem Ort lebten, wo es kaum etwas gab außer ein paar Fischern, Fleischern, Bauern, Landärzten, Webern und einem Bürgermeister, konnten sie sich von dem ganzen Geld nichts kaufen. Daher baten sie die Boten, die die feine Eselswolle in die Welt trugen, aus den Orten, in die sie reisten, immer etwas mitzunehmen. Unser junger Hirte wuchs in genau so einer Familie auf.

Von klein auf hatte er gelernt, alle Sachen, die er besaß, auf seine Hirtengänge mitzunehmen, sodass ihn bei seiner Arbeit nie langweilig sein konnte und er niemals auf den Gedanken kommen konnte, seine Arbeit sei das Leben nicht wert.

So zog er jeden Tag mit seinen Eseln los, zwanzig trugen sein Hab und Gut und fünfzehn Esel waren ohne Last. Zur Weide war es eine lange, gefährliche Wanderung und mit so vielen Tieren musste man sie oft gegangen sein, um seine Esel sicher führen zu können. Der Junge war sehr talentiert und lief die Strecke von Tag zu Tag voller Übermut. Auf der grünen Weide inmitten von hohen Felswänden verbrachte er seine Tage.

Jeden Tag spielte er ein anderes Instrument, trug andere Kleidung, zog sich neun Mal um und schmückte die Wiese mit vielen Zeichnungen und Malereien aus jedem Ort auf der Welt.

Doch irgendetwas stimmte nicht, mit der Zeit fühlte er, wie eine leichte Trauer ihn belastete. Er hatte keine Kraft mehr und dachte nur mehr an die Worte seiner Eltern. Jeden Tag aufs Neue nahm er noch einen Gegenstand mehr mit, mit dem er sich abgeben konnte, hatte aber keine Ruhe mehr in sich, es kam ihm alles fremd vor, was er bei sich hatte, die vielen Instrumente, die er nur mäßig spielen konnte, die ganze Kleidung, die er nicht öfter trug als ein einziges Mal. Das alles wurde mehr Arbeit für ihn als Vergnügen. Er wurde immer schwächer und schwächer, ganz bleich und hatte nicht mehr die Kraft seine Arme richtig zu heben. Nicht einmal lächeln konnte er mehr.

Eines Tages regnete es die ganze Nacht lang, doch in der Früh musste der Junge trotzdem seine vielen Esel auf die Weide führen. So krank und träge wie er war, taumelte er die schmalen Felswege entlang und verlor plötzlich die Kontrolle über seine Esel. Ein Tier hatte sich anscheinend weh getan und sprang wild durch die Herde. Sie befanden sich gerade an einer schwierigen Stelle, nahe einer tiefen Schlucht. Der Junge versuchte alles, um den springenden und tretenden Esel zu beruhigen, doch er war zu erschöpft und der Esel riss ihn mit einer kräftigen Bewegung in die Tiefe. Sie stürzten zusammen in die weite dunkle Schlucht, sie fielen lange. Wie durch ein Wunder fing sie ein sanfter Fluss auf. Der Junge trieb eine Weile dem Fluss entlang, bis ihn das eiskalte Wasser weckte.

Als er erwachte geriet er in Panik und versuchte zum Ufer zu schwimmen, was ihm gelang. Dort angekommen schrie er mit aller Kraft nach Hilfe. Eine Stimme aus dem Himmel antwortete ihm und dem Jungen überkam ein Schauer, er dachte, er sei im Land der Toten. „Hallo Hirtenjunge!“, hörte er, „Ich habe schon sehr lange auf diesen Moment gewartet, mit dir in Ruhe reden zu können. Heute darf ich zum ersten Mal an deiner Seite weilen und nicht zwischen tausend Dingen im Dunklen liegen!“ Der Hirtenjunge war verwirrt, es war, als würde sein Hut zu ihm sprechen und tatsächlich, die tiefe ruhige Stimme kam von seinem Kopf. Der Junge war verängstigt und rief, „Halts Maul Hut!“. Doch der Hut versuchte ihn zu beruhigen und sagte, er könnte dem Jungen helfen, er solle nur in seine Jackentasche greifen. Der Junge tat das auch und fand in seiner Jacke eine goldene Maultrommel. „Jetzt musst du sie nur noch spielen!“, sagte der Hut und so fing der Junge an. Er spielte so schön und laut er konnte. Nach einer Zeit hörte er von weit her ein lautes Kreischen und das Schlagen riesiger Flügel. Weit oben am Himmel sah er einen großen Adler, der sehr schnell auf ihn zu kam und ihn packte. Plötzlich flog der Junge hoch in der Luft. Er sah nichts, außer Wolken und blauen Himmel. Die Luft peitschte ihm um die Ohren und es war eisigkalt. Die Krallen des Adlers bohrten sich in seine Schulter, der Schmerz war enorm, ließ aber auf einmal nach. Der Junge fiel. Es drehte sich alles um ihn herum und er landete hart im hohen Gras, direkt neben der Hütte seiner Eltern.

 

Nach ein paar Tagen Bettruhe konnte er sich wieder aufraffen und hatte ein gutes Gefühl, ein Gefühl von Erleichterung. Er hatte alle seine Sachen an die Schlucht verloren und es war, als wäre ihm aus unerklärlichen Gründen ein Stein vom Herzen gefallen. Das Einzige, was er noch hatte, waren sein Hut und seine Maultrommel. Von diesem Tag an ging er nicht mehr außer Haus ohne die zwei Dinge, nahm aber auch nichts anderes mehr mit.

Und wenn er nicht gestorben ist, dann wandert er noch heute.

(Moritz Leipold)

Der magische Wald

Im Leben gibt es immer den einen Punkt, an dem man weiß, man müsse etwas ändern. Die Veränderung passiert automatisch, dennoch bedarf es oft eines gewissen Etwas, das dieser dringend nötigen Veränderung auf die Sprünge hilft.

Elly gehörte zu jenen Elfen, die auf alle anderen stets organisiert, liebevoll und mutig wirkten. Ihre blonden Haare, die schon fast bis zu ihrer Hüfte reichten, und ihre blauen Augen, die den Anschein erweckten, als sei darin ein Mikrokosmos gefangen, der sich nach dem Meer sehnte, zierten ihre feengleiche, träumerische Art. Ihr ganzes Wesen strahlte in einem zartrosa Ton, der alles abrundete und sie genau zu der Elfe machte, die sie nun einmal war. Sie lernte früh, sich selbst zu versorgen, da sie alleine in einem kleinen Häuschen am Waldrand lebte, dessen Bäume nie aufhörten, die farbigen Blätter zu tragen. Es war ein magischer Wald, der mit seinem idyllischen, stets positiven Schein und den dort hausenden Vögeln dem Mädchen jeden Morgen ein Konzert bescherte, bestehend aus den rauschenden Blättern, wenn der warme Wind durchfegte, und dem schrillen, aber angenehmen Gezwitscher der besagten Vögel.

Man konnte nicht sagen, dass Elly unglücklich war, aber besonders erfüllt fühlte sie sich trotzdem nicht, denn irgendetwas fehlte ihr tief im Inneren. Das Problem war nur, sie wusste nicht, was. Tagein, tagaus sammelte sie Himbeeren und Gänseblümchen in ihrem kleinen Garten, der direkt in den mystischen Wald mündete. Als sie mit dem Sammeln fertig war, ging sie in ihr Häuschen, stellte die Gänseblümchen in eine Vase, und die Himbeeren legte sie sorgsam in eine Schüssel daneben. Danach saß sie stundenlang auf ihrer Schaukel, schaukelte bis in den Himmel hinauf, so lange, bis die Dunkelheit anbrach, und begann von vorne, wenn die Morgensonne durch das Fenster schien und ihre rosigen Wangen küsste. Eines Abends lag sie wach im Bett und starrte an die Decke, auf der sich kleine Sterne abbildeten, die sie vor Jahren dort hingemalt hatte, um sich der Stille der Nacht etwas näher zu fühlen. Sie dachte über ihr Leben nach, und was ihr fehlte, aber sie kam einfach nicht dahinter.

Jahre vergingen und Elly lebte nach wie vor alleine. Sie sehnte sich nach mehr, aber selbst nach so vielen Jahren wusste sie sich nicht zu helfen. Getrübt von ihrer inneren Leere saß sie eines Tages auf ihrer geliebten Schaukel und dachte erneut über das fehlende Teil ihres Lebens nach, als sich diese plötzlich selbstständig machte. Sie hatte jegliche Kontrolle verloren und auf einmal schleuderte die mit Ranken umschlungene Schaukel die kleine Elfe schwungvoll in den Wald hinein und Elly fiel. Sie fiel und fiel, noch viel weiter, obwohl sie schon längst am Boden hätte aufkommen müssen.

Mit einem Krach lag sie nun am Waldboden, aber der Wald war nicht so, wie sie ihn normalerweise kannte. Alles war dunkel, die Blätter waren alle abgefallen und die Bäume blühten längst nicht mehr. Auch die Vögel waren verschwunden. Der Wald hatte seine Magie verloren. Elly stand auf, putzte die Erde von ihrem Kleid und drehte sich mehrere Male langsam um ihre eigene Achse. Verzweifelt schrie sie um Hilfe, doch als sie keine Antwort bekam, setzte sie sich zu einem großen Baum, lehnte ihren kleinen Körper dagegen und legte ihren Kopf auf ihre Knie. Erst jetzt fiel Elly auf, wie sehr sie die Stille eigentlich hasste. Sie fühlte sich hilflos und allein. Plötzlich raschelte es unter einem der Laubhaufen. Sie hob rasch den Kopf, griff nach dem Baum und drückte sich verängstigt dagegen. Es war der Nebel, der sich bemerkbar gemacht hatte. Er kam langsam auf sie zu und das Mädchen bemerkte, wie beklemmend sich dieser anfühlte. Mit tiefer Stimme und einem gemeinen Unterton sprach er zu ihr: „Du schaffst es sowieso nie mehr hier raus, warum führst du dich denn so auf, hm?“ Elly wurde nur noch trauriger und konnte ihre Tränen nun erst recht nicht mehr halten. Eine nach der anderen kullerte über ihr zartes Gesicht und je mehr sie weinte, desto verletzender wurde die Stimme des Nebels, und mit jedem Satz wuchs er. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann wäre sie vom Nebel verschlungen. Elly wusste sich nicht mehr zu helfen und begann zu schreien, da der Nebel ihre Zweifel nur nährte. „Geh sofort weg!“, befahl sie mit einer zerbrechlichen Stimme, doch der Nebel hörte nicht auf und kreiste weiter um sie.

Als Elly sich schließlich geschlagen geben wollte, hörte der Nebel auf einmal auf zu wachsen. Er blieb wie versteinert in seiner Position, und sie konnte nun etwas durch ihn hindurchsehen. Gegenüber, an einen anderen Baum gelehnt, saß ein zweites Wesen. Sie versuchte, durch Augenkneifen mehr zu sehen, doch da der Nebel zu dicht war, stand sie zaghaft auf und machte kleine Schritte auf den zweiten Gefangenen des Waldes zu. Geführt von ihrem Herzen fiel ihr nicht einmal auf, dass der Nebel sie nicht weiter verfolgte, sondern sich langsam hinter ihr auflöste, je mehr Mut sie fasste.

Es war ein Elfenjunge, ebenfalls mit blonden Haaren, allerdings waren seine Augen so grün wie die Blätter des magischen Waldes, die sie sofort an ihr Zuhause erinnerten.
Sie blieb vor ihm stehen und als er zu ihr aufsah, sah sie ihm an, dass er genauso wenig mit Gesellschaft gerechnet hatte. Sie lächelte ihn an, und als er dieses Lächeln erwiderte, setzte sie sich neben ihn auf den dunklen Waldboden. „Wer bist du?“, fragte Elly den Jungen. „Mein Name ist Aris…“, antwortete er etwas unsicher. „Hallo Aris, ich heiße Elly!“, sprach sie und lächelte ihn dabei wieder an. „Wie bist du hierhergekommen?“, war die Frage, auf deren Antwort sie sehr gespannt war. Aris erzählte ihr, dass er auf einer Bank gesessen und nachgedacht hatte, und plötzlich hier gelandet war. Elly sah ihn verwundert an und erzählte von ihrer Landung, fragte ihn dann aber, worüber er denn nachgedacht hatte. „Ach, ich weiß auch nicht… ich habe darüber nachgedacht, wer ich bin, denn eigentlich weiß ich das nicht. Und du? Worüber hast du nachgedacht, bevor du hier gelandet bist?“ „Ich habe das Gefühl, mir fehlt etwas im Leben…“ Aris nahm ihre Hand und sagte, dass sie sich nicht sorgen solle, denn er würde ihr dabei helfen, das zu finden, wonach sie suchte. Elly lächelte, dachte nach, und schließlich sagte sie zu ihm, dass sie ihm auch helfen wolle, sich selbst zu finden.

Aris und Elly saßen lange da und redeten wie enge Vertraute über die Dinge, die sie so beschäftigten. Vertieft in ihr Gespräch bemerkten sie gar nicht, wie es am Horizont allmählich etwas heller wurde. Mit jedem gewechselten Wort der Vertrautheit schoss ein kleiner Sonnenstrahl durch die Äste und erleuchtete einen Teil des Weges. Als die beiden endlich bemerkten, dass sich direkt vor ihnen ein Weg aufgetan hatte, sprang Aris auf und griff nach Ellys Hand, um ihr aufzuhelfen. „Elly, sieh doch, da ist ein Weg!“ Hand in Hand gingen die beiden den Pfad entlang, bis die kleine Elfe schließlich ihr kleines Häuschen sah. Sie rannte los und zerrte ihren neuen Freund vor lauter Erleichterung mit. Sie waren dem Wald entkommen. Elly drehte sich zu Aris und umarmte ihn. Auf einmal fiel der Vorhang vor ihren Augen, und sie erkannte, dass sie nun endlich wusste, was ihr die ganze Zeit über gefehlt hatte. Es war Aris, der ihr zeigte, dass es das Alleinsein war, das sie so unglücklich gemacht hatte – er war das fehlende Teil. Aris wiederum spürte im gleichen Moment sein Herz, das ihm bewusst werden ließ, dass Elly ihm durch ihre Anwesenheit zeigte, wie er, er selbst sein konnte, – er musste sie finden, um zu sich selbst zu finden.

Beiden wurde schnell klar, dass sie nur aus dem Wald entkommen konnten, weil sie einander gerettet hatten. Sie warfen einen Blick zurück auf den Wald, der wieder zum Leben erwachte. Von nun an lebten die beiden glücklich in Ellys Haus am Waldrand, führten ein erfülltes und glückliches Leben und schaukelten gemeinsam, bis die Abenddämmerung die Sonne ersetzte und die Sterne sichtbar wurden.

(Mariella Schwarz)

Der Wunsch aus dem funkelnden See

Es war einmal ein kleines Dorf mit wunderschöner Landschaft. Am Rande dieses Dorfes lebte ein Adelspaar, das sich für lange Zeit ein Kind wünschte. Eines Abends, als sie zu Bett gehen wollten, trat aus dem Schatten ein kleines Männchen hervor. Als das Paar das Männchen sah, erschrak es vor dessen mystischer, doch lieblichen Gestalt. „Was bist du?“, fragte die Adelige. „Ich bin der jahrelang begehrte Wunsch, der nun in Erfüllung gehen wird.“

Der Adelige fragte, wie das möglich sei, denn viele Ärzte konnten den Grund nicht erklären, weshalb sie kein Kind bekommen konnten. Das Männchen erklärte ihnen, dass am nächsten Abend die Sterne nach einer langen Zeit erneut auf die Erde kommen würden, um den Mond zu feiern. Dabei würden sich die Sterne um einen runden See, der sich in der Nähe des Herrschaftssitzes befand, versammeln und um das Spiegelbild des Mondes im See tanzen. Und während die Sterne tanzten, würden sie einen besonderen Sternenstaub versprühen, der dann in den See fallen würde.

Dieser See wäre dann für die restliche Nacht verzaubert, und würde demjenigen, der als Erster mit dem Wasser in Berührung kommt, einen Herzenswunsch erfüllen. Diese Nachricht stimmte das Paar euphorisch, sie konnten ihr Glück kaum fassen. Jedoch ahnten sie nicht, dass es einen Haken an dieser Geschichte gab. Denn die Sterne konnten bei ihrer Wiederkehr den Wunsch wieder mit sich in den Himmel nehmen, wenn dieser sich erfüllt hatte. Das Männchen wollte die Freude des Paares nicht trüben, deshalb meinte es nur, das Paar dürfe das Kind niemals aus dem Haus lassen, und sollte es so gut wie möglich verstecken.

Nachdem das Männchen alles gesagt hatte, bedankte sich das Paar, und das Männchen verschwand wieder in den Schatten.

Am nächsten Abend tat das Paar genau das, was das Männchen ihnen gesagt hatte. Nachdem die Sterne wieder in den Himmel aufgestiegen waren, kam das Paar hinter einem Baum hervor, und die Frau legte sich ins Wasser. Anschließend sprach sie ihren Wunsch aus, stieg aus dem Wasser, und ging gemeinsam mit ihrem Mann wieder nach Hause. Am nächsten Tag wachte die Frau auf und wusste bereits, dass ihr Wunsch in Erfüllung gehen würde.

Neun Monate später kam das Kind auf die Welt, es war ein Mädchen, und sie nannten es Antonia. Das Paar ließ im Keller ein wunderschönes Zimmer einrichten, damit das Mädchen ja nicht auf die Idee kommen könnte, es gäbe eine Außenwelt, die es bereisen könnte. Denn das Paar wollte nichts riskieren und seine Tochter keinesfalls verlieren. Also lebte Antonia in ihrem Zimmer im Keller, ohne Fenster und Sonnenlicht. Die Eltern blieben den ganzen Tag über bei ihr, damit sie sich nicht allein fühlte. Sie erfüllten Antonia auch alle Wünsche und Begehren, die sie hatte.

Jedoch fühlte Antonia, je älter sie wurde, dass etwas nicht stimmte. Sie fragte sich jeden Abend, wohin ihre Eltern verschwanden, und entwickelte einen Wunsch: Sie wollte am Abend mit den Eltern mitgehen und sehen, wohin sie verschwanden. Das Paar wusste nicht, was es tun sollte, denn sie wollten nicht riskieren, dass ihr Kind durch die Fenster sah, dass es eine Außenwelt gab. Also wiesen sie zum ersten Mal einen Wunsch ihrer Tochter ab.

Daraufhin wurde Antonia immer neugieriger und fragte jeden Abend aufs Neue, ob sie mit ihnen mitgehen dürfe. Das belastete die Eltern zusehends und sie hörten auf, ihr Kind den ganzen Tag zu unterhalten. Das Paar plagten Schuldgefühle, es war für die beiden unerträglich in das enttäuschte, traurige Gesicht ihrer Tochter zu blicken. Als das Mädchen 18 Jahre alt wurde, kamen die Eltern zum ersten Mal seit langer Zeit wieder für den ganzen Tag zu ihr und feierten ihren Geburtstag mit Rotwein und einer leckeren Torte. Sie feierten den ganzen Tag und tanzten, aßen und tranken so viel, dass das Ehepaar vor dem Rausch des Weines vergaß, die Türe zu Antonias Zimmer abzusperren, als es am Abend schlafen ging.

Antonia sah dies als ihre Chance und schlich sich nach wenigen Stunden aus ihrem Zimmer die Stiegen hinauf. Als sie im ersten Stockwerk ankam, traute sie ihren Augen nicht. Sie sah zum ersten Mal funkelnde Lichter auf einer dunkelblauen Decke und fühlte sich ihnen so nah, dass in ihr plötzlich eine unerklärliche Sehnsucht aufkam. Sie wusste nicht, woher dieses Gefühl kam, und warum sie sich so fühlte, sie wusste aber, dass sie hinausgehen musste. Also zog sie sich einen Mantel über und ging nach draußen.

Als sie unter ihren Füßen das feuchte Gras spürte, fühlte sie sich so frei, und der Natur so nah, dass ihr vor Freude Tränen in den Augen stiegen. Plötzlich sah sie zwischen den Bäumen, die nicht weit von ihrem Haus entfernt waren, ein Licht, und wurde neugierig. Also näherte sie sich diesem Licht und sah kleine, funkelnde Lichtquellen um einen See tanzen. Sie verstand nicht, was geschah, doch fühlte sie sich mit ihrer blassen Haut, die noch nie das Sonnenlicht gespürt hatte, den tanzenden Lichtquellen so ähnlich, dass sie immer näher an den See trat.

Als sie sich den Sternen näherte, flogen diese plötzlich wieder in den Himmel hinauf. Antonia war daraufhin ein wenig traurig, da sie mit den Sternen mittanzen wollte. Doch dann sah sie auf den See und bemerkte, dass er funkelte. Voller Neugier griff sie nach dem funkelnden Wasser, und als sie damit in Berührung kam, erlosch das Funkeln sofort. Sie schaute sich fragend um und wusste nicht, was gerade passiert war. Also entschloss sie sich, schnell wieder nach Hause zu flüchten.

Am nächsten Morgen wachte sie in einem ihr bis dahin unbekannten Raum auf und hörte in der Ferne jemanden nach ihr rufen. Sie entdeckte dabei ihre Eltern, die sehr aufgebracht und verwirrt waren, als sie Antonia entdeckten. Sie fragten sie, was passiert war, und warum sie nicht in ihrem Zimmer gewesen sei. Antonia erzählte ihnen, was am vorigen Abend geschehen war, und konnte in den Gesichtern ihrer Eltern nichts anderes als Panik und gleichzeitig Erleichterung sehen. Die Eltern erzählten ihr daraufhin, was es mit dem See, den tanzenden Sternen und den Wünschen auf sich hatte.

Und Antonia verstand daraufhin, dass sie gestern einen Wunsch in Erfüllung gehen ließ. Sie hatte sich gewünscht, frei zu sein, und mehr von dem feuchten Gras, der dunkel mit kleinen Lichtern benetzten Decke und den Sonnenstrahlen, die sie nun zum ersten Mal auf ihrer Haut durch die Fenster gespürt hatte, zu sehen. Und das ging in Erfüllung, denn wenn sie nicht gestorben ist, liegt sie noch draußen in der Natur, im feuchten Gras, zum Himmel hinaufschauend, mit einem warmen Lächeln und einer unbeschreiblichen Freiheit.

(Ariana Birta)

Die Schildmaid und der Königssohn

In einem Land, wo die Nebel über den Hügeln tanzten und die Wellen Geschichten flüsterten, herrschte ein Königreich namens Eldfjallgard. Die Mauern der Festung schienen aus Asche geformt, und auch der Himmel darüber war stets vom Rauch des Vulkans verhangen, der dem Reich seinen Namen gab.

Hier thronte ein König, grausamer als die tiefsten Schluchten Náströnds – ein Herrscher, der in seinem Leben nichts anderes tat, als Schlachten zu führen und sein Königreich in Armut und Schrecken zu stürzen. Doch er hatte einen Sohn, der ihm nicht unähnlicher hätte sein können. Thorin – so war sein Name – war gütig und beim Volk beliebt.

 

Vor zehn Wintern hatten die Krieger des Königs ein kleines keltisches Dorf überfallen. Sie stürmten und verbrannten die Katen, verwüsteten die Felder und metzelten die Bewohner nieder. Sie verschleppten die Jungfrauen, machten Sklavinnen aus ihnen und banden sie für immer an das feindliche Reich.

Doiréann, eine Schildmaid, war eine von ihnen. Sie war die Tochter des Stammesführers, der während des Angriffs fiel. Nun stand sie auf den kalten Steinfliesen der Burg, ihre Hände in Ketten gelegt. Durch das große Rundfenster über dem Thron sah sie den Vulkan, dessen Glut im Nebel wie ein dämonisches Auge flackerte. Schwefel und Rauch machten die Luft dick und schwer – doch daran war sie längst gewöhnt. Wie auch an den selbstgefälligen, harten Blick des Königs.

„Du hast gelernt zu horchen, dich zu beugen, Doiréann“, sprach er mit schwerer, rauer Stimme und leeren Augen. Sie wollte erwidern, doch sie tat es nicht. Sie hatte gelernt, ihre Worte zu sparen. Das Feuer und der Stolz jedoch, die er längst für erloschen hielt, brannten unaufhörlich – stärker als je zuvor. Nur zeigte sie es nicht.

Da öffneten sich die Tore des Thronsaals, und der Schatten des Königssohns fiel in den Saal. Thorin war so anders als sein Vater: Jünger, ja, doch auch seine Züge waren weicher, ohne die Härte, die der König wie in Stein gemeißelt trug. Seine blauen Augen, so klar wie Lapislazuli, hatte er von seiner Mutter.

Als sich ihre Blicke trafen, entflammte Doiréanns Wut erneut, heißer als die Lava des Vulkans. Thorin liebte sie, das wusste sie längst. Doch in ihren Augen war seine Liebe nichts anderes als neue Fesseln – wie die Ketten, die man ihr angelegt hatte.

Oft hatte er um ihre Hand angehalten, seine Augen voller Hoffnung. „Doiréann, so muss es nicht sein“, hatte er gefleht. „Du könntest frei sein, du könntest…“ – und immer hatte sie ihn unterbrochen.
„Mich dir zu eigen machen?“, warf sie ihm entgegen. „Dein Vater, deine Männer haben mein Volk in Asche gelegt, mir meine Freiheit genommen. Eher würde ich sterben, als deine Frau zu werden!“

Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte: Entweder sie floh und kehrte in ihre Heimat zurück, oder sie blieb – gekettet an den Feind. Und so machte sie sich auf den Weg, über steile Klippen und durch dunkle Wälder.

Auf ihrer Reise begegnete sie einem jungen Drachen, den seine Mutter verstoßen hatte. Sie erbarmte sich seiner und nahm ihn mit. Fjällra, ein kleiner Feuerdrache, führte sie mutig zurück in ihr Heimatsdorf.

Doch der Anblick schnürte ihr das Herz zu – aus dem einst farbenfrohen Städtchen war eine Ruine geworden. Es hatte sich nie von dem Überfall erholt. Von den wenigen Bewohnern, die geblieben waren, ließ sich keine Armee mehr bilden. Doiréann seufzte und sank erschöpft zu Boden. Die Dornen eines Busches zerkratzten ihre Arme, doch das kümmerte sie nicht. Da bemerkte sie eine alte Frau, die plötzlich vor ihr stand. Erst als die Greisin ihre krächzende Stimme erhob, hob Doiréann den Blick.

„Weine nicht, Kind“, sprach die Alte, ein silberner Rabe auf ihrer Schulter. Sie griff nach dem Vogel und zog eine seiner Federn. „Hier“, sagte sie mit rauer Stimme, „nimm diese Feder und hüte sie. Solltest du in großer Not sein, wirf sie in die Flammen – und wir werden erscheinen.“

Bevor Doiréann fragen konnte, wer „wir“ sei, war die Alte verschwunden. Trotz der trostlosen Verhältnisse fanden sich in den folgenden Wochen Dutzende Frauen und Männer, die bereit waren, sich zu rüsten und dem Feind den Krieg zu erklären.

Die Schlacht tobte im Hinterland Eldfjallgards. Regen mischte sich mit dem Rauch des Vulkans, die Erde bebte unter dem Marsch der Krieger, und die Schreie der Verwundeten hallten mit dem Donner des Himmels. Es war, als hielten selbst die Götter den Atem an.

Inmitten des Gefechts trafen sich Thorins und Doiréanns Blicke. Schwerter klirrten, Pfeile zischten. „Doiréann, ich bitte dich – es muss nicht so enden“, flehte er, seine runenbesetzte Klinge locker in der Hand. „Kehre um, und ich schwöre, ich werde alles tun, um Frieden zu schaffen.“

Doch ihre Stimme war scharf und gnadenlos, ihre Augen voller Zorn. „Du kannst keinen Frieden geben – dein Vater hat ihn zerstört, und du bist Teil seines Erbes! Ich kämpfe nicht nur für mein Volk, ich kämpfe, weil du niemals verstehen wirst, was ihr mir genommen habt!“

Ihre Klingen trafen aufeinander mit einem Klang, der wie Donner über das Schlachtfeld rollte. Die Feder der alten Frau löste sich aus Doiréanns Rüstung, segelte zu Boden und landete in einer Lache aus Lava.

Mit fürchterlichem Getöse öffnete sich der Himmel, Regen peitschte herab, Blitze zuckten, und der Vulkan spie Rauch und Feuer. Gerade als Doiréann ihre Waffe erneut hob, ertönte der gellende Schrei eines Raben, der über das Schlachtfeld flog. Sie erkannte ihn sofort: Morrigan, die Kriegsgöttin, beobachtete sie. Gleichzeitig trat ein Wolf aus den Schatten der Gefallenen – Odin selbst.

Doch statt ihr zur Hilfe zu eilen, wie es die Greisin versprochen hatte, begannen die Götter sich zu vereinen. Und in diesem Moment begriff Doiréann: Aus diesem Kampf würde kein Sieger hervorgehen. Das Gleichgewicht war zerstört, nur das Schicksal konnte noch entscheiden.

Ein Blitz spaltete den Himmel, die Erde riss auf. Rauch und Asche stiegen empor, als der Vulkan Feuer spie. Beide Kämpfende stürzten, ihre Schwerter glitten aus den Händen. Doiréann blickte zu den Wolken, die sich wie ein Vorhang der Götter über das Schlachtfeld legten.

„Morrigan“, flüsterte sie, „lass mein Opfer nicht umsonst sein.“

Sie hob ihr Schwert ein letztes Mal – doch ein zweiter Blitz zerschmetterte die Klinge in ihrer Hand. Thorin sank auf die Knie, Tränen in den Augen. „Es war niemals unser Krieg“, murmelte er, bevor der Boden beide verschlang.

Als die Erde sich schloss und die Elemente verstummten, blieb nichts zurück als Rauch, Asche und Stille. Die Götter hatten das Gleichgewicht wiederhergestellt – doch die Welt würde niemals die Geschichte der Schildmaid und des Königssohns vergessen.

(Dana Pollinger)

Die Stadt atmet

Tief in der Nacht, an einem Tag, der nicht sonderbarer war als andere, begriff ich, dass die Stadt atmete. Es war kein Schock und keine große Überraschung gewesen. Sie atmete langsam und ganz tief, und nur wenn alle Lichter erloschen waren, tat sie es. Ihr Brustkorb hob und senkte sich so gediegen, wie der eines Babys. Es war nicht seltsam. Die Äste vor meinem Fenster folgten dem Takt, und vollführten ihren Tanz in der Luft, während mir der Mond zulächelte, als gäbe es ein Geheimnis zwischen ihm und mir.

Diese schlichte Erkenntnis ließ mich in Erinnerung an meine Kindheit zurückfallen.

Früher lebte ich am Land, tief in den Bergen, wo es nur ungepflasterte Straßen und einen Bus am Tag gab.

An manchen Sommertagen, wenn die Dämmerung anbrach, erwachten die Berge zum Leben. Sie erhoben sich langsam und vorsichtig wie Greise, um die Bäume und die Tiere auf ihnen nicht zu verletzen. Wenn man ganz leise war, hörte man ihre Gelenke knacken, und wenn man selbst den Atem anhielt, trug der Wind ihr Flüstern sogar an unsere Kinderohren. Damals glaubten wir alle, dass sie nie wollten, dass wir Menschen ihr Spiel mitbekämen, aber trotzdem gingen sie auf kleine Wanderungen und wiegten sich und ihre Kinder sanft im Wind. In den seltenen Nächten, in denen man es schaffte, genau im richtigen Moment aufzuwachen, waren alle Berge um einen herum verschwunden. Es war, als könnte man die ganze weite Welt auf einem flachen Feld sehen. Wohl deswegen dachten wir auch, dass an der Vermutung, die Erde sei eine Scheibe, etwas dran sein könnte. Doch am Morgen waren sie immer wieder genau da, wo sie immer gewesen zu sein schienen.

Ich lag ganz still unter meiner Decke, versuchte, mich möglichst wenig zu bewegen. Ich wollte sie nicht verschrecken. Ob es wohl die ganze Zeit schon so gewesen war?

Unwillkürlich fragte ich mich, wie viele Menschen wohl gerade in genau diesem einen Moment das Gleiche dachten. Denn wie wahrscheinlich war es wohl, dass ich als einzige in dieser Ansammlung von Häusern und Menschen gerade bemerkte, dass ihre Heimat Lungen besaß?

Doch da beschlich mich ein seltsames Gefühl, und dann kam die Erkenntnis:
Seit meiner Ankunft fraß sich die Stadt durch meine Adern, wie ein berauschendes Nervengift. Wie ein liebes Tier war sie um mich geschlichen und hatte mich mit ihrem schönen Chaos umgarnt. Ich war süchtig. Denn mir war klar, dass ich bald so unweigerlich mit ihr verschmolzen sein würde, dass ein Abschied schier unmöglich wäre. Einen Teil von mir würde ich wohl nie wieder zurückerlangen. Er läge hier zwischen heißem Asphalt und schwüler Luft, irgendwo zwischen den Mauerritzen, so dass ihn nie wieder ein Mensch finden könnte.

Ich war nicht vollständig gewesen, als ich hierherkam, doch wenn ich wieder ginge, wäre jede Chance, ein Ganzes zu werden, verloren.

Was für eine Ironie.

Ich lag weiter still, mit einem Lächeln auf den Lippen, und spürte sie in meinen Adern pulsieren.
Wir atmeten im Einklang.

(Sophia Koller)

Die Suche nach dem Glück

Es war einmal eine junge Frau, die in einem kleinen Häuschen mit großen Glasfenstern mitten in der Natur lebte. Umgeben von kleinen Bäumen, Sträuchern und einem großen, schönen See. Neben dem See erstreckte sich eine riesige Blumenwiese, so weit das Auge reichte, mit den unterschiedlichsten Pflanzen in allen Formen und Farben. Die junge Frau liebte ihr kleines Häuschen mitten in diesem prächtigen Blütenmeer. Generell mochte sie alles, was bunt war.

 

Sie war sehr lebensfroh und hilfsbereit, doch Fremden gegenüber war sie anfangs manchmal eher schüchtern. Meist malte sie oder zauberte Köstlichkeiten aus den Beeren und Früchten der umgebenden Landschaft. Langweilig wurde ihr fast nie, denn immer noch gab es den See, in dem sie sich ab und zu erfrischen konnte.

Doch eines Tages bemerkte sie, dass ihr etwas fehlte. Sie überlegte lange, was es sein konnte. Sie saß in ihrer Blumenwiese und beobachtete die Natur, als sie plötzlich eine schimmernde Spur über der Wiese entdeckte. Neugierig folgte sie dem Glitzerstreifen, bis dieser dünner wurde und ein blau-funkelnder Schmetterling auf sie wartete.

Die junge Frau war fasziniert von ihm. Plötzlich begann der Schmetterling, mit ihr zu sprechen. Er bot ihr an, mitzukommen, um ihr zu helfen, herauszufinden, was ihr vielleicht fehlte. Zuerst war sie misstrauisch und hatte Angst vor dem Unbekannten, doch sie fasste ihren Mut und folgte dem Schmetterling.

Bereits auf dem Weg wurden sie von einer Wespe attackiert. Sie summte wild umher und schien die junge Frau von ihrem Vorhaben abhalten zu wollen. Das Insekt sprach: „Willst du wirklich dem Schmetterling folgen? Du bist doch alleine auch zufrieden. Wer weiß, wem du begegnest oder was passieren könnte?“ Hektisch flog die Wespe umher.

Die junge Frau war verunsichert und wollte umkehren, doch etwas in ihr sagte ihr, dem Schmetterling zu folgen. Also tat sie genau das.

Der Schmetterling führte sie zu einer fremden Person, bei der sie übernachten konnte, um am nächsten Morgen weiterziehen zu können. Die Person war ein alter Mann, der wenig sprach, und sie legte sich auf einen Heuhaufen als Schlafplatz. Der Schmetterling flüsterte: „Morgen ziehen wir weiter, dann wirst du alles verstehen.“

Die Frau konnte kaum schlafen. Das Heu juckte an ihrem ganzen Körper, und die Wespe flüsterte ihr immer wieder Selbstzweifel ein: „Das hast du nun davon“, „Du kannst nur hoffen, dass dir nichts Schlimmes passiert“ – und vieles mehr. Unausgeschlafen und ängstlich wachte sie am nächsten Morgen auf und hoffte, dass der Tag besser werden würde.

 

Lange folgte sie dem Schmetterling durch Wälder und Wiesen, über kleine Bäche und durch ein finsteres Tal, bis sie schließlich ein kleines Dorf entdeckten. Der Schmetterling führte sie zu einem Häuschen ein Stück abseits der anderen, das neben einer kleinen Blumenwiese lag. Sie fühlte sich sofort wie zu Hause. Sie klopfte, und vor ihr stand eine andere junge Frau, die gerade ein Himbeerbrot backte. Diese Frau, Lottie, befand sich in derselben Situation: Ihr fehlte etwas, doch sie wusste nicht, was es war. Schnell stellten sie fest, dass sie viele gemeinsame Interessen hatten, und wurden zu besten Freundinnen.

Der Schmetterling blickte die beiden Frauen an und sprach: „Manchmal lohnt es sich,

neue Abenteuer zu wagen, denn in jedem Abenteuer steckt etwas Gutes.“

(Nora Högler)

Dorothea und der Zauberzwerg

Vor langer, langer Zeit lebte eine junge Bäuerin mit ihren sieben Schafen in einem kleinen Häuschen gleich hinter dem Zauberwald und dem Hexenbrunnen. Jeden Morgen führte sie ihre Schafe auf die Weide. Sobald die Tiere versorgt waren, ging sie in die Stadt, um ihre Besorgungen zu machen. Das Geld war knapp, doch das störte sie nicht – solange sie ihre Schafe hatte, war sie glücklich. Aus deren Wolle fertigte sie allerlei Sachen, die sie anschließend auf dem Markt verkaufen konnte.

Bis die Kirchturmuhr die Nachmittagsstunden einläutete, blieb sie in der Stadt, dann machte sie sich auf den Heimweg. Sie wollte vor Einbruch der Nacht zu Hause sein, denn es wurde sehr kalt, wenn die Sonne unterging und der Mond seine kalten Strahlen über den Wald warf.

 

Diesmal dauerte der Marsch nach Hause länger, und es begann bereits zu dämmern. Die Bäuerin entschied, einen kürzeren Weg durch den Zauberwald zu nehmen. Sie kannte ihn zwar nicht gut und ging ihn ungern, doch so konnte sie der Kälte und Dunkelheit entgehen.

Plötzlich brach die Nacht über sie herein, und ein dichter Nebel machte das Gehen schwierig. Sie stolperte quasi blind durch den Wald, bis sie kopfüber in ein Loch fiel. „Plumps!“ Das verdutzte Mädchen bewegte sich kurz – und auf einmal drehte sich der Boden unter ihr, als wäre sie auf die verkehrte Seite der Erde gefallen. Langsam richtete sie sich auf und schaute sich um. Komischerweise hatte sich nichts verändert.

Sie machte einen Schritt – und dann: „Aua!“, rief jemand. Das Mädchen schaute sich um, sah jedoch niemanden. Doch gerade als sie weitergehen wollte, entdeckte sie ein kleines Männchen. Es war so hoch wie ein Tannenzapfen – vielleicht etwas größer, wenn man sein spitzes rotes Hütchen mitzählte. Beleidigt schaute es zu ihr hoch, fast gekränkt. Vorsichtig nahm Dorothea den Zwerg auf ihre Handfläche, damit sie ihn besser sehen und hören konnte. Dieser begann unaufgefordert, seine Geschichte zu erzählen. Schließlich schlossen sie einen Deal: Er würde sie zurück zu ihrem Zuhause bringen, wenn sie ihm helfen würde. Der kleine Mann wünschte sich nichts sehnlicher, als groß zu werden. Anfangs schien das unmöglich, doch nach einer Weile hatte Dorothea eine Idee: Wenn es hier einen Zauberwald gab, musste es doch auch andere magische Wesen geben – vielleicht eine Hexe mit einem Trank, der dem Zwerg helfen konnte. Sie fragte den Zwerg nach einer Hexe. Er bestätigte, dass es mehrere in der Gegend gab, aber dass man sie besser meiden sollte, wenn einem das Leben lieb war. Dorothea zögerte nicht lange, nahm den Zwerg wieder in die Hand und machte sich auf den Weg. Eine Hexe zu finden, konnte doch nicht so schwer sein.

Bald entdeckten sie ein kleines Häuschen ganz aus Glas. Sie horchten und schauten – niemand war da. Schnell huschten sie hinein. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, wonach sie eigentlich suchen mussten. Sie griffen zum erstbesten Trank, und der Kleine trank ihn vollständig aus. Doch statt zu wachsen, wurde er nur breiter – so breit, dass sein Körper eine Kugel bildete. Dorothea musste ihn festhalten, damit er nicht davonrollte.

Beim zweiten Trank wuchsen seine Hände zu groß, sodass er umkippte. Beim dritten wurde er zwar groß, erhielt jedoch die Gestalt eines Esels. Vor Empörung iahte er unaufhörlich. Beim nächsten Versuch verwandelte er sich in eine kleine, zaghafte rote Rose, deren Blätter vor Frustration zu Boden fielen.

Sie fanden den richtigen Zaubertrank nicht – und langsam lief ihnen die Zeit davon. Die Hexe würde bald zurückkehren. Noch bevor sie den nächsten Trank probieren konnten, erschien sie. Eine große Frau mit eingefallenen Augen, bleicher Haut und krallenähnlichen Händen stand vor ihnen. Ihr zerlumptes Gewand flatterte im Wind.

Die Hexe prüfte Dorothea, dann sagte sie: „Du kannst gehen.“
Dorothea war verdutzt.
„Aber bevor du gehst, schneide mir die rosa Blume ab. Dann bringe ich dich zu deinen Schafen zurück.“

Dorothea wusste, dass dies ihre einzige Chance war, nach Hause zu kommen – doch wenn sie der Bitte nachkäme, würde der Zwerg sterben. Sie sah der Hexe in die Augen und sagte fest „Nein!“

In diesem Moment ertönte hinter ihr ein lauter Knall. Die Hexe lachte, doch es war kein boshaftes Lachen – sie wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ihr Lieben, nicht alle Hexen sind böse. Es gibt Feen, die noch mehr hexen sind als Hexen selbst. Dass ihr zu mir gekommen seid und nicht zu einer guten Fee, schmeichelt mir. Also werde ich euch erhören.“

Sie schnippte einmal – und der zur Kugel gewordene Zwerg nahm wieder seine alte Gestalt an.

„Nun, was wünscht ihr euch?“, fragte sie.
„Ich möchte groß sein“, sagte der Zwerg selbstsicher.

Die Hexe schnippte erneut, doch nichts geschah.
„Seltsam“, meinte sie. „Ich fürchte, mein Freund, mein Zauber kann dir nicht helfen.“

Beim dritten Schnippen standen sie plötzlich wieder an der Stelle, an der Dorothea in den Zauberwald geraten war.
„Du musst dreimal laut auf den Boden stampfen, dann kehrst du in deine Welt zurück“, sagte der Zwerg weinerlich.

„Danke, dass du mich nicht zurückgelassen hast. Du hast dein Bestes getan – damit ist dein Teil der Abmachung erfüllt. Leb wohl!“

Traurig drehte sich der Zwerg weg.
„Sei doch nicht albern! Wenn es dir hier nicht gefällt, komm doch mit mir. Ich bin auch allein, ein bisschen Gesellschaft könnte ich gut vertragen.“

Noch bevor er protestieren konnte, schnappte ihn Dorothea, stampfte dreimal auf den Boden – und im nächsten Augenblick standen sie auf der anderen Seite. Vor Anspannung hatte Dorothea die Augen fest zugekniffen, doch als sie sie öffnete, stand ein großer, junger Mann vor ihr.

Sie erkannte ihn nicht sofort – erst als er sie anstarrte und sagte: „Ich bin groß, sieh nur, wie groß ich bin!“, – wurde ihr bewusst, was geschehen war. Sie fielen sich in die Arme und lachten.

 

Der ehemalige Zwerg und Dorothea wurden unzertrennlich. Fortan fütterten sie morgens gemeinsam die Tiere, gingen in die Stadt und führten sie abends zurück in den Stall. In den Zauberwald kehrten sie nie wieder zurück.

(Elisa Resch)

Dorothea und die Baumbrecher

Es war einmal eine kleine Hütte im Wald, abseits von Menschen. Dort lebte ein junges Mädchen namens Dorothea. Doch Dorothea war kein gewöhnliches Mädchen. Sie gehörte zu einer der seltensten Spezies auf diesem Planeten: den Waldelfen.

Waldelfen mochten wie gewöhnliche Menschen wirken, doch eines unterschied sie deutlich von den „normalen“ Menschen: ihre Fürsorge, ihre Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen, ihre herzliche Art – und schließlich ihre spitzen Ohren. Dorothea war eine der letzten Waldelfen.

 

Denn die „Baumbrecher“, wie Dorothea sie wegen ihres schlechten Umgangs mit der Natur nannte, hatten vor einigen Jahren beschlossen, so gut wie alle Waldelfen auszurotten. Auch Dorothea verlor ihre Eltern, als sie zwölf Jahre alt war. Seitdem lebte sie in ihrer kleinen, verwachsenen Hütte, versteckt zwischen den Bäumen, zusammen mit ihrem Fuchs Billy. Von Tag zu Tag und Jahr zu Jahr versuchte sie, immer wieder neue Dinge zu lernen. Als sie damals täglich um ihr Leben fürchten musste, hatte sie unter anderem gelernt, mit Pfeil und Bogen zu kämpfen, um sich vor möglichen Feinden – also Menschen – zu schützen.

Nachdem der Krieg zwischen Baumbrechern und Waldelfen nachgelassen hatte, war Dorotheas Leben sehr ruhig geworden. Doch mindestens einmal am Tag, meist zwischen 09:45 Uhr und 12:35 Uhr, wurde der Wald gestört. Die Baumbrecher fällten Bäume und zerstörten Schritt für Schritt alles, um Möbel daraus zu bauen. Dorothea gefiel das gar nicht, besonders nicht, als eines Tages Menschen ihre Hütte entdeckten und planten, sie zu untersuchen.

Von nun an musste Dorothea einen Fluchtplan entwickeln, denn sie konnte nicht einschätzen, welche Schritte die Baumbrecher als Nächstes unternehmen würden.

Am Montagmorgen legte Dorothea ihren Bogen mit Köcher um und machte sich zusammen mit Billy auf die Suche nach einem Versteck.
„Es riecht nach Menschen“, sagte Billy.
„Wir könnten zur Lichtung gehen und dort durch den versteckten Tunnel schleichen“, schlug er vor.

Dorothea verletzte der Gedanke, ihre Hütte hinter sich zu lassen, doch sie wusste, dass dies der einzige Weg war, um sich und Billy zu schützen. Auf der Lichtung angekommen, trafen sie viele andere Tiere, die ebenfalls vor den Baumbrechern flohen: Eule Elena, Dachs Dagobert, Waschbär Wanda, Reh Rosa, Igel Ingrid und viele mehr.

„Wir wissen nicht, wohin wir sollen“, bemerkte Eule Elena.
„Kommt mit uns, wir verstecken uns im Tunnel“, antwortete Dorothea.

Kurz darauf standen sie vor dem Tunnel, als sie plötzlich eine leise Stimme hörten. Billys feiner Geruchssinn schlug Alarm. „Hier riecht es seltsam, fast als wäre ein Waldelf hier.“

Dorothea blickte vorsichtig in den Tunnel und entdeckte die dunkle Silhouette eines Jungen. Als er sich umdrehte, fielen ihr sofort seine spitzen Ohren auf. Nach einem kurzen Gespräch stellte sich heraus, dass der andere Waldelf, Merliorn, dasselbe Problem hatte wie sie. Komischerweise hatte es nach sechs Jahren im Wald noch nie eine Begegnung der beiden gegeben, obwohl seit langem das Gerücht eines anderen überlebenden Waldelfen kursierte.

Die beiden tauschten ihre Geschichten aus und waren sich einig: Die Störungen durch die Baumbrecher mussten endlich aufhören.
„Glaubst du wirklich, dass sie Einsicht haben?“, fragte Dorothea besorgt.
„Auch wenn sie uns viel genommen haben, müssen wir ihnen vielleicht einfach zeigen, dass wir Waldelfen keine Bedrohung sind, sondern ein harmonisches Leben für alle Lebewesen – auch für uns – schaffen wollen“, meinte Merliorn.

Ein paar Stunden später beschloss das neue Dream-Team – Merliorn, Dorothea und viele Tiere des Waldes –, einen Brief an den Chef der Baumbrecher zu schreiben. Darin baten sie um eine friedliche Aussprache am kommenden Donnerstag um genau 09:45 Uhr an der Lichtung.

Von Tag zu Tag wurden sie nervöser und hatten immer mehr Angst vor dem bevorstehenden Treffen. Als der Donnerstagmorgen kam, bereiteten sich Dorothea, Merliorn und die Tiere auf das Gespräch vor. Fast wie eine Security-Gruppe begleiteten alle Tiere des Waldes die beiden.

„Hört uns bitte zu!“, rief Dorothea zu den Baumbrechern, die auf großen Baggern saßen und gespannt auf den anonymen Briefversender warteten.
„Wir haben euch diesen Brief geschickt und wollen euch unsere Sicht der Dinge erklären. Ihr zerstört unser Zuhause, ohne es zu bemerken. Wir sind keine Bedrohung für euch, sondern wollen die Natur und ihre Tiere schützen“, verkündete Merliorn.

Anfangs zeigten die Baumbrecher keine Einsicht, doch nach langen, anstrengenden, aber friedlichen Gesprächen fanden beide Gruppen eine Lösung. Der Gedanke, den Lebensraum dieser gutherzigen Tiere zu zerstören, überzeugte den obersten Leiter der Baumbrecher, respektvoller mit der Natur umzugehen.

 

Dorotheas und Merliorns Worte hatten tatsächlich Wirkung gezeigt, auch wenn sie kaum daran geglaubt hatten. Von nun an achteten die Baumbrecher nicht mehr nur auf sich und ihr Baumaterial, sondern auch auf alle Tiere, die von den Bäumen abhängig waren.

Dorothea, Merliorn und die Tiere kehrten zurück. Dorothea und Merliorn beschlossen, eine Wohngemeinschaft zu gründen. Von nun an lebten sie viele Waldelfenjahre in ihrer kleinen Hütte im Wald, diesmal ohne Sorge, eines Tages von den Baumbrechern vertrieben zu werden.

(Hanna Jauschnegg)

Eine Mondgeschichte

Es war einmal ein Königreich hoch im Norden. Es war ein magischer Ort voller guter, aber auch böser Kreaturen. Eine dieser Kreaturen war der Fraß, ein mächtiges Monster mit unstillbarem Hunger. Und eines Nachts, als sein Hunger besonders groß war, reckte und streckte es sich, holte aus – und schnappte. Er schnappte nicht irgendwas, nein, er fraß den Mond. Die Lichtquelle, die allein die finstere Nacht erhellte, war nun nurmehr ein schwaches Leuchten aus dem Bauch der grausamen Kreatur.

Das Verschwinden des Mondes machte die kleine Fee aus dem Wald besonders traurig. Ohne ihn fühlte sie sich nachts einsam, und da ihre Mutter den Wald bald verlassen würde, wurde ihre Einsamkeit bloß noch schlimmer.

Die Mutter war aber nicht herzlos, ganz im Gegenteil, bevor sie ging, gab sie ihren drei Töchtern besondere Geschenke. Ihrer ältesten Tochter ihre geliebte Haarnadel, ihrer anderen Tochter einen Bogen und zuletzt der kleinen einsamen Fee eine Puppe.

Am nächsten Tag kamen die Schwestern zu ihr: „Bögen sind für Jungs, ich will ihn nicht haben, ich gebe ihn dir!“, sagte die eine. „Die Haarnadel gefällt mir nicht, ich gebe sie auch dir!“, sagte die andere.

Ein wenig verwirrt, aber dennoch dankbar, nahm sie die Gegenstände an, immerhin war sie auch nicht zufrieden mit ihrem Geschenk. Die Puppe sah zwar lieb aus, aber ihre Einsamkeit nahm sie ihr nicht. Und so hatte die kleine Fee immer noch schlaflose Nächte. Eines Abends wanderte sie in den Wald und weinte, doch sie weinte nicht allein, ein oranger Wolf sprang hinter einem Busch hervor und jammerte: „Liebe kleine Fee, bitte sei so lieb und hilf mir, du kannst doch sicher helfen, ohne den Mond weiß ich nicht wohin.“

„Ach lieber Wolf, ich kann selbst nichts tun, der Himmel ist so weit oben, dass meine Flügel mich nicht dorthin tragen können.“

Der Wolf dachte nach, drehte sich im Kreis, neigte seinen Kopf und sagte schließlich: „Eine alte Freundin, die fliegende Sockenschlange, könnte dir helfen! Ich habe sie lange nicht gesehen, aber sie haust noch in ihrem Nest etwa einen Tagesmarsch entfernt, wenn du willst, bringe ich dich morgen hin!“

„Gut!“, sagte die Fee einwilligend.

Bevor sie am nächsten Morgen aufbrach, schnappte sie noch die drei Dinge, die die Mutter dagelassen hatte, für etwas würden sie sicher gut sein, dachte sie.

Der Weg war lange und beschwerlich, doch bei Sonnenuntergang gelangten sie zum Nest der riesigen Stoffschlange. In sich gekuschelt lag sie mit einem traurigen Blick in den Knopfaugen da. Als sie den Wolf und die kleine Fee erblickte, bewegte sie nur trotzig ihren riesigen Kopf weg.

„Ach liebe Schlange, hilf mir bitte, den Mond zurückzuholen, flieg mich doch zum Himmel hoch!“

Die Schlange schluchzte und deutete auf das Ende ihres langen Körpers

Das kleine Glöckchen, zu dessen Klingen die Schlange normalerweise flog, war abgerissen und Nähte waren geplatzt

Traurig setzte sich die kleine Fee nieder. Doch ihr Blick schweifte über ihr Gepäck.

Sie nahm die Puppe vorsichtig und bat sie: „Ach Püppchen, bitte hilf mir doch, schneide ein Stück deiner Haare ab und repariere so meinen Freund!“

Und zu ihrer Überraschung stand die Puppe auf, nahm ihre Schere, schnitt einen Teil ihrer Haare ab und begann zu nähen.

Als es vollbracht war, fiel die Fee ihr um den Hals: „Bitte komm doch mit mir liebe Puppe!“

Die Puppe nickte und so sattelten sie die Schlange und flogen los.

Der Wind wehte um ihre Ohren und wie erwartet fing das Glöckchen zu spielen an. Lauter und immer lauter wurde das Klingen und als sie den Himmel erreichten, wurde es so laut, dass der Fraß langsam aber sicher aus dem Schlaf gesungen wurde.

Die Puppe machte sich Sorgen: „Was jetzt?“, fragte sie. Doch die Fee hatte schon einen Plan, mit dem Bogen und der Haarnadel in der Hand steuerte sie die Sockenschlange schnell auf den Kopf des Monsters zu, welches gähnte. Es war gerade aus seinem tiefen Schlaf gerissen und sein Maul stand weit offen. Die Fee kannte ihr Ziel und schoss die Nadel geradewegs in seinen Rachen.

Der Fraß würgte.

Er würgte ein zweites Mal.

Und beim dritten Mal spuckte er zum Glück aller den Mond wieder aus.

Jubelnd flogen die beiden wieder zum Festland herab und erzählten dem Wolf von ihrem Erfolg.

Zögerlich fragte die Puppe: „Was, wenn er den Mond wieder frisst“? Woraufhin die Fee lachend entgegnete „Keine Sorge, die Haarnadel steckt noch in seinem Rachen, fortan wird er sich nur mehr von Suppe ernähren können!“

Und so konnte die kleine Fee endlich wieder schlafen, aber sie bemerkte, dass sie nicht die Anwesenheit des Mondes ihre Einsamkeit vergessen ließ, sondern die Freunde, der Wolf, die Puppe und die Schlange, welche sie gefunden hatte. Gemeinsam erlebten sie noch viele Abenteuer und hin und wieder luden sie sogar den Fraß zum Suppenessen ein.

(Elsa Grillhofer)

Skorpia

In einer grauen Welt, in der alles farblos und still war, lebte Skorpia, eine von Selbstzweifeln geplagte junge Frau. Wiesen, Wälder und Felder wirkten leblos, selbst die Tiere streiften lautlos umher.

An einem heißen Sommertag beschloss Skorpia, im weiten Meer zu schwimmen, um ihren Gedanken zu entfliehen und im Wasser Trost zu suchen. Doch während sie weiterschwamm, verlor sie sich in ihren Gedanken und bemerkte nicht, wie weit sie vom Ufer abgekommen war.

Plötzlich begann das Wasser unter ihr seltsame Formationen anzunehmen: Kreise und Spiralen, die sich zu einem gewaltigen Strudel vereinten. Eine Pforte öffnete sich, aus der leuchtende, bunte Strahlen hervorbrachen und die Dunkelheit durchdrangen. Die Kräfte des Strudels waren zu stark, und die junge Frau wurde in die Tiefe gerissen.

Skorpia verlor das Bewusstsein. Als sie langsam wieder zu sich kam, fand sie sich in einer fremden, bunten Welt wieder. Umgeben von schillernden Farben und singenden Klängen fühlte sie sich zunächst verloren. Doch plötzlich hörte sie ein schwaches Wehklagen.

Zu ihren Füßen lag eine verletzte Libelle, deren Farben zu verblassen schienen.

„Ich bin Lilia“, hauchte die Libelle. „Meine Farben schwinden, und ohne sie kann ich nicht überleben. Die magische Lagune ist meine einzige Rettung.“

Skorpia wusste, dass sie etwas tun musste, und versprach zu helfen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, doch der Pfad war voller Hindernisse.

Die erste Hürde war eine Brücke aus treibenden Steinen, die über das Zweifelsmoor führte und nur mit vollem Selbstvertrauen überwunden werden konnte. Skorpia war zunächst von Unsicherheit geplagt und fragte sich, was sie hier eigentlich tat. Doch als sie zögernd die Augen schloss und in sich kehrte, gelang es ihr, Schritt für Schritt die Brücke zu überqueren. Am anderen Ufer angekommen, fühlte sie sich zum ersten Mal selbstsicher.

Doch es blieb keine Zeit zum Ausruhen – sie musste die Reise fortsetzen, wenn sie die Libelle retten wollte. Entschlossen ließ sie sich von Lilias Beschreibungen durch das Dickicht des verwunschenen Waldes führen. Inmitten des Waldes schien die Zeit stillzustehen. Gewaltige Bäume verdunkelten den Weg und hüllten die beiden in bedrückende Stille. Mit Schürfwunden von den abstehenden Ästen erreichten sie schließlich das andere Ende des Waldes – und die nächste Prüfung.

Die zweite Hürde führte sie in einen botanischen Garten, dessen Blumen Stimmen hatten. Sie flüsterten von Ängsten und vom Scheitern. Skorpia musste zuhören, ohne sich beirren zu lassen. Als die Blumen ihre Geschichten beendet hatten, erblühten sie in leuchtenden Farben, und der Weg war frei.

Schließlich stand sie vor einem schwarzen See, in dem sich ihr unsicheres Spiegelbild zeigte. „Ohne mich bist du nichts“, flüsterte das Spiegelbild im Wasser. Doch Skorpia entgegnete felsenfest: „Du bist ein Teil von mir, aber du definierst mich nicht.“ Mit diesen klaren Worten löste sich das Spiegelbild auf, und der See gab den Weg zur magischen Lagune frei.

Als sie die Lagune erreichten, staunte Skorpia über deren Schönheit: Das Wasser schimmerte in allen Farben, und die Luft war von einem warmen Zauber erfüllt. Vorsichtig setzte sie die schwache Lilia ins Wasser. Sofort erwachte die Libelle zu neuem Leben, ihre Flügel leuchteten wie ein Regenbogen, und sie erhob sich mit neuer Kraft in die Lüfte.

„Danke, Skorpia“, sagte Lilia. „Du hast nicht nur meine Farben gerettet, sondern auch etwas Wunderbares in dir selbst gefunden.“

Skorpia blickte an sich herab und bemerkte, dass ihr Kleid, das eben noch zerlumpt gewesen war, nun in den Farben der Lagune schimmerte. Sie hatte das Gefühl, endlich in ihrer eigenen Haut zu strahlen – und alles Grau, das wie Ballast auf ihrer Seele gelegen hatte, hinter sich lassen zu können.

(Mavie Prates)

Vergissmeinnicht

In einem kleinen Gebirgsdorf, hoch oben zwischen den Felsen, lebte ein Junge. Er wohnte alleine auf einem kleinen Bauernhof mit seinen Tieren – ein paar Hühnern, einer Ziege und seiner liebsten Kuh, Muh-Muh. Seine Eltern waren vor vielen Jahren auf geheimnisvolle Weise ums Leben gekommen. Die Leute im Dorf beschuldigten ihn und schlossen ihn aus der Gemeinschaft aus. Doch das war nicht wahr.

 

Gleich neben dem Dorf lag ein finsterer Wald. Die Menschen erzählten sich, dass dort eine schwarze Gestalt mit langem Haar und einer schwarzen Katze lebte – ein böser Magier. Der Bauernjunge hatte nie von ihm gehört, denn die Leute sprachen nie mit ihm.

Eines Abends, als die Sonne hinter den Bergen verschwand, bemerkte der Bursche, dass Muh-Muh nicht im Stall war. Er suchte überall, doch sie war nirgends zu finden. Da sah er, dass das Stalltor einen Spalt offenstand, und entdeckte Hufspuren, die in den mysteriösen Wald führten. Er folgte sofort den Spuren. Der Wald war düster, und eine kalte, schaurige Nebeldecke legte sich über den Boden. Der Junge rief nach seiner Kuh, aber alles, was er hörte, war das Knarren der Bäume und der pfeifende Wind. Schließlich verlor er die Spur im Nebel und wollte gerade umkehren, doch da sah er etwas: Muh-Muh lag am Boden – tot. Neben ihr steckte in einem Baum ein Pfeil mit schwarzen Federn.

Dann spürte er, dass er nicht allein war. Im Augenwinkel sah er eine schwarze Gestalt zwischen den Tannen. Sie trug einen langen Umhang, und eine schwarze Katze huschte um ihre Beine. Der Junge hielt den Atem an und vermutete, dass dies der böse Magier sei, der seine Kuh getötet hatte.

Am nächsten Morgen schwor er sich, den Magier zu finden und zu töten – genau wie dieser es angeblich mit seinen Eltern getan hatte. Mit einem alten, selbstgebastelten Holzschwert machte er sich auf den Weg in den Wald. Lange suchte er zwischen den hohen Bäumen, bis er schließlich auf eine kleine, halb versteckte Hütte stieß. Vorsichtig näherte er sich und schob die quietschende Tür auf. Drinnen war es dunkel und staubig. Er suchte nach allem, was einem Magier gehören könnte – Zauberstäbe, Tränke, Bücher – doch er fand nichts.

Plötzlich hörte er ein lautes, ängstliches Miauen. In einer Ecke entdeckte er die schwarze Katze, die zitternd vor Angst kauerte.
„Ganz ruhig, kleine Mieze“, flüsterte er und streckte die Hand aus, doch die Katze wich zurück.

Da öffnete sich die Tür, und ein dünner, schwarz gekleideter Mann mit langem Haar trat ein. In seinem Haar steckte eine große, blaue Vergissmeinnicht-Blume. Er hielt einen Bogen in der Hand und richtete ihn direkt auf den Burschen.
„Wer bist du, und was machst du in meiner Hütte?“, fragte der Mann leise, beinahe ängstlich.

Der Junge wich zurück. „D-der Magier! Du hast meine Eltern und meine Kuh getötet!“

Der Mann ließ den Bogen sinken und schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Magier. Ich bin ebenfalls auf der Suche nach ihm. Er hat meine Mutter in diese Katze verwandelt.“ Er deutete auf das zitternde Tier. „Ich wollte ihn mit meinem Bogen erledigen, als er deine Kuh ermordete, aber stattdessen habe ich den Baum getroffen.“

Die beiden redeten lange miteinander. Schließlich beschlossen sie, gemeinsam den Magier zu suchen und seiner Zauberei ein Ende zu bereiten.

Nach Tagen der Suche fanden sie eine weitere Hütte, versteckt zwischen alten Bäumen. Drinnen entdeckten sie ein verstaubtes Zauberbuch. Während der Mann darin blätterte, sagte er: „Hier steht, wie ich meine Mutter zurückverwandeln kann!“

Sie bereiteten den Trank genau so vor, wie es im Buch beschrieben war, und gaben ihn der Katze. Zunächst geschah nichts. „Im Buch steht, es dauert ein paar Tage“, erklärte der Mann. „Dann wird sie wieder ein Mensch.“ Beim Durchsehen der Notizen fanden sie noch etwas: Der Magier hatte sich aus Versehen selbst in einen Frosch verwandelt und war im Wald verschwunden.

Der Mann und seine Mutter, die nach einigen Tagen tatsächlich wieder eine Frau war, zogen vorübergehend auf den Hof des Bauernsohnes. Die drei lebten friedlich zusammen, und der Mann kehrte immer wieder zu seiner Hütte im Wald zurück.

 

Eines Tages trafen sich der Junge und der Mann auf einer Lichtung. Er überreichte ihm seinen schwarzen, selbstgeschmiedeten Bogen. „Das ist für dich“, sagte er. „Als Dank für deine Hilfe.“ Der Bub nahm den Bogen mit leuchtenden Augen entgegen. In sein Haar steckte er eine weiße Kamelienblüte, die ihn an seine Eltern erinnerte. Zusammen blickten sie in den Wald, wo nun kein Magier mehr Unheil stiften konnte. Von diesem Tag an lebten sie alle drei glücklich und in Frieden.

(Gavin Stürzl)

Von der Suche nach dem Licht des Lebens

Es war einmal vor langer, langer Zeit, als die Welt noch kaum besiedelt war und man stundenlang in eine Richtung laufen konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Da gab es eine versteckte, düstere Bucht mit einem kleinen Baum und einem Felsen, an dessen schroffer Haut die schäumenden Wellen leckten. Jahrhundertelang blieb die Bucht unentdeckt und während all der Zeit fraßen die Wellen hungrig an den Felswänden und hinterließen daran ihre Spuren, formten kleine Dellen, Kurven und Bögen. Und als noch mehr Zeit vergangen war, konnte man darin Felsenfinger, Felsenbeine, Felsenschultern und ein Felsengesicht erkennen. Eines Tages trug es sich zu, dass die Wurzeln des nahestehenden Baumes, die während all dieser Zeit kräftig gewachsen und nun sehr lang waren, sich bis zu dem Felsen strecken konnten.

 

Nun muss man wissen, dass in dieser Welt die Magie ein rares Gut ist und in einem normalen Menschenleben nur schwer zu erlangen. Doch der Baum konnte in seinem langen Leben die umherschwirrenden Teilchen der Magie über seine Blätter in sich aufnehmen und verfügte nun über starke Zauberkraft. Als also die Spitzen seiner Wurzeln sich durchs Wasser schlängelten und um den steinernen Körper legten, erwachte dieser zum Leben und aus dem Felsen wurde eine junge Frau, die auf einem Floß aus Wurzelgeflechten und getragen von den Wellen an den Strand gespült wurde.

Verwundert blicke sie umher. Zum ersten Mal konnte sie die Landschaft sehen, von der sie jahrhundertelang ein Teil war. Sie versuchte aufzustehen, wollte das Laufen probieren, doch ihre Beine waren noch nicht stark genug und knickten immer wieder ein. Ihre anfängliche Freude verschwand genauso schnell wie die Spuren, die sie im Sand hinterlassen hatte. Es war ihr, als würde das Meer sie verstoßen, indem seine Wellen jedes Indiz auf ihre Herkunft ausradierten. Traurig legte sie sich in den Sand, blickte in den Himmel, der sich langsam verdunkelte und schlief schließlich ein.

Sie erwachte auf dem gemächlich unter ihr wankenden Rücken eines blauen Löwen. Er war aus dem nahen Sumpfwald gekommen, um einen ruhigen Spaziergang über den nächtlichen Strand zu machen, als er ihre kleine, schlafende Gestalt erblickte, von der ein zartrotes Leuchten ausging. Er schob sie sich auf den Rücken und trug sie in den Sumpf hinein. Als sie die Augen aufschlug und den Kopf leicht anhob, sah sie über, neben und unter sich abertausende umherschwebende Lichter, die alle Blüten, Büsche und Bäume ringsherum in schwaches goldenes, blaues, grünes und violettes Leuchten tauchten. Sie hielt sich an der Mähne des Löwen fest und richtete sich staunend auf. Eine Welle des Glücks rauschte über sie hinweg und sie wollte gerne absteigen, um sich die Lichter genauer anzusehen, aber der Löwe hielt sie mit einem zarten Prankenhieb davon ab. Angst machte ihr das keine, war sie doch in ihrem Leben noch nie einer Raubkatze begegnet. Eigentlich überhaupt noch niemandem, außer dem Baum, ein paar Fischen und einem einzelnen Krebs, dem sie vorhin am Strand, halb schlafend, mit den Augen auf seinem Weg ins Meer folgte. Doch sie hatte Glück, es war ein netter Löwe.

Er brachte sie zu einer kleinen, von hölzernen Pfählen getragenen Hütte, deren verwitterte Holzwände von allerlei Ranken überwuchert waren und die sich zwischen gewundenen Mangrovenwurzeln versteckte. Dort lebte eine Hexe bereits seit so vielen Jahren, dass jeder außerhalb des Sumpfes sie schon lange vergessen hatte und verirrte Wanderer überrascht und erleichtert waren, wenn sie plötzlich auf sie trafen. Man sah ihr das Alter allerdings nicht so sehr an wie die Freundlichkeit, die aus ihren goldenen, von kleinen Fältchen eingerahmten Augen strahlte. Sie kannte den Löwen, er war ihr ein treuer Freund, der die dunklen Tage im Sumpf ein wenig weniger einsam machte. Als er ihr nun erzählte, wie er die junge Frau gefunden hatte, und dass sie womöglich Hilfe brauchen könnte, lächelte sie milde und bat die beiden herein.

Drinnen knisterte ein kleines Feuer und darüber brodelte Suppe in einem Kessel, von der die junge Frau dankbar aß, als sie ihr angeboten wurde. Ein wenig gestärkt begann sie, der Hexe Fragen zu stellen: Wie war die weite Welt, von der sie bis jetzt nur so wenig gesehen hatte? Warum lebte die Hexe hier, so alleine im Sumpf? Bewohnten noch andere Menschen die nähere Umgebung? Ganz besonders interessiert fragte sie nach den vielen bunten Lichtern, die sie am Weg zur Hütte bestaunt hatte. „Oh ja“, sagte die Hexe langsam mit ihrer samtig-tiefen Stimme, schaute dabei in die Flammen und es wirkte, als blickte sie in weite Ferne. „Wunderschön sind sie, nicht wahr? Aber ich muss dich warnen, Steinmädchen, ich muss dich warnen. Lass dich nicht von ihnen verführen. Den Träumen anderer nachzujagen, das führt zu nichts Gutem. Sei weise und bleib auf deinem Weg. Der Sumpf ist zu einem gefährlichen Ort geworden.“ Die junge Frau wusste nicht, was damit gemeint war, doch als sie erneut nachfragte, wurde es ihr erklärt.

Immer wieder hatten sich Wanderer in den Sümpfen verloren und immer hatte es einen Grund dafür gegeben, warum sie ausgerechnet dort vom rechten Weg abgekommen waren. Sie alle waren auf der Suche gewesen, auf der Suche nach etwas, das ihnen im Leben das Gefühl eines Sinnes gab. Oft waren sie verzweifelt und müde und wollten nicht weiter selbst danach suchen. Darum baten sie die Hexe, ihnen eine Lebensaufgabe zu geben. Und sie erfüllte ihnen diesen Wunsch, wenngleich sie damit alle anderen Möglichkeiten, wie ihre Leben hätten verlaufen können – all die Sehnsüchte, all die Träume – verloren. Die Menschen waren daraufhin sehr erleichtert, wussten, wohin ihr Lebensweg sie führen sollte und womit sie glücklich werden würden. All die ungenutzten Möglichkeiten, all die ungelebten Leben verschwanden allerdings nicht einfach, sondern irrten weiter, flogen als bunte Lichter durch den Sumpf, auf der ewigen Suche nach jemandem, der sie doch noch ausleben würde.

Die junge Frau war darüber sehr erstaunt und tief ergriffen legte sie sich schlafen. Am nächsten Morgen erwachte sie mit einem Ziehen in ihrem Herzen, einer unbestimmte Sehnsucht, die sie auf die Beine zog und es war ihr, als würde die ganze weite Welt nach ihr rufen. Sie erzählte der Hexe von diesem neuen, unbekannten Gefühl und erntete ein weises Lächeln. „Nun ist wohl deine Zeit gekommen, dich auf den Weg zu machen, um dein eigenes Licht zu finden. Doch sei gewarnt, noch ein allerletztes Mal: Hüte dich vor dem Verfolgen jener, die nicht die deinen sind. Und komm nicht zurück, ehe du weißt, das Deine gefunden zu haben.“ Mit diesen Worten schickte die Hexe sie auf die Reise.

Tage- und nächtelang irrte sie umher und geriet mehr als einmal in Versuchung, den fremden Lichtern nachzujagen, sich in ihnen zu baden und treiben zu lassen, um noch einmal das rauschartige Glücksgefühl zu spüren, das sie angesichts der unendlichen Möglichkeiten bei ihrer ersten Begegnung mit den Lichtern empfunden hatte. Doch jedes Mal sah sie den Löwen vor sich und hatte die warnende Stimme der Hexe in den Ohren und blieb vernünftig. Eines Abends aber, der Mangrovenwald lag endlich hinter ihr und sie ging einen steinigen Weg entlang, überkamen sie Zweifel. Sie hatte auf ihrer Wanderung bereits viel gesehen: Pflanzen und Pilze und Tiere, neue Landschaften und Monde und Sternbilder und sogar, aus weiter Ferne, ein paar Menschen. Doch ihr Licht hatte sie nicht gefunden. Das Ziehen in ihrem Herzen wurde mit jedem ihrer Schritte stärker und sie wusste nicht, warum. Enttäuscht und verwirrt schleppte sie sich einen Berg hinauf und ließ sich oben angekommen müde gegen eine Felswand sinken. Sie befand sich auf einer Klippe, bemerkte, wie die Wellen weit unter ihr glitzerten und überlegte, ob sie einfach aufgeben und sich ins Meer fallen lassen sollte, zurück in den Ort, aus dem sie kam. Vielleicht gehörte sie am Ende ja doch dorthin?

Genau in diesem Moment ihrer größten Traurigkeit erschien plötzlich ein zartblaues Leuchten am Horizont, das mit jeder Minute anschwoll bis schließlich ein großer Teil des Himmels über dem Sumpf in blau flammendem Wolkenkleid erstrahlte. Und da wusste sie mit einem Mal, wohin sie gehen musste, wusste, dass das Licht für sie bestimmt war und auch, wo sie es finden konnte. Wusste, wie blind sie gewesen war. Sie rannte den Berg hinab, schlug sich die baren Füße an spitzen Steinen auf und Schilfhalme schlitzten in ihre Waden. Sie rannte weiter und weiter, bis sie wieder den Rand des Sumpfwaldes erreichte. Erst dort wurde sie langsamer, unsicher, angesichts der lauernden Lichter. Diese aber blieben unbewegt und ließen sie passieren. Bei der Hütte angekommen blieb sie stehen und zögerte. Dann fasste sie sich ein Herz und klopfte. Es war aber nicht die Hexe, die ihr öffnete, sondern ein junger Mann mit dunkelblauem Haar. Er lächelte sie an und seine Augen schienen auf katzenhafte Art zu leuchten. Hinter ihm stand die Hexe, ein zufriedenes Lächeln lag auch auf ihren Lippen. „Ich hatte gehofft, du würdest es in ihm erkennen. Und du hast mich nicht enttäuscht.“ Sie legte dem Mann eine Hand auf die Schulter, während sie weitersprach. „Während all der Zeit kam niemand vorbei, der ihn verdient hatte. Sie alle verfolgten verzweifelt ihr eigenes Schicksal, blind für das eines anderen. Du aber scheinst etwas Besonderes zu sein, du solltest wohl diejenige sein, die ihn befreien konnte.“

 

Und so kam es, dass die junge Frau und der junge Mann Hand in Hand erst die Hütte, und später auch den Sumpf verließen, um sich irgendwo anders ein gemeinsames Leben aufzubauen. Sie hatten einander viel zu erzählen: Sie verriet ihm, wo sie herkam und wie es dazu gekommen war, dass er sie am Strand hatte finden können. Er wiederum vertraute ihr an, dass die Hexe in Wahrheit nicht immer so gutherzig war, wie sie auf den ersten Blick wirkte. Sie hatte ihn vor langer Zeit gegen seinen Willen und zu ihrer Unterhaltung in einen Löwen verwandelt, um nicht so einsam zu sein und durch die Magie war er ihr treu geblieben. Auch wenn er ihr mittlerweile verzeihen konnte und sie gut zusammengelebt hatten, war es ein Gefühl gewesen, als fiele eine schwere Kette von seinem Hals ab, in dem Moment, als das blaue Licht aus ihm herausbrach und ihre Sehnsucht und ihr Erkennen ihn erlösten. Sie hatten einander gefunden und somit auch, wonach ihre Herzen sich am meisten sehnten. Und wenn sie nicht gestorben sind, ja, dann leben sie noch heute, irgendwo da draußen, ein blaues und ein rotes Licht, die einander ihre Welt erleuchten.

(Annika Lesny)